NOTIZEN AUS VENTSPILS. „Karl-Marx-Stadt“

https://www.youtube.com/watch?v=5BO8MgJk3fk

Ob ich dieses Lied kenne, fragt der Gast aus Riga, ein Russe, der für ein paar Tage im Autorenhaus zu Besuch ist.  Da das russische Original – „Ландыши“ – in den 60er Jahren ein echter Gassenhauer war, wird doch auch die deutsche Fassung populär gewesen sein, oder? Er summt die Melodie und geht rhythmisch mit den Beinen mit bis ich einen Ohrwurm habe.
„Karl-Marx-Stadt“.  Klingt ein bisschen wie „Göttingen“ der Französin Barbara. Nur eben sehr russisch.
Also: Nie gehört.
Wie sich herausstellt, ist das Lied erst 1990 übersetzt worden, als die Stadt umbenannt wurde. Ob diese Fassung die Chemnitzer jemals wirklich erreicht hat, bleibt uns verborgen …

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Slavēsim Dievu!

Die evangelische Nikolaikirche vor meinem Fenster ist immer verschlossen und mit einem Bauzaun gesichert. Niemand kann einfach so hinein.
Vorgestern aber traf ich einen Herrn mit einem  märchenhaft großen Schlüssel in der Hand. Es gebe keine Ausnahme. Ich könnte am Sonntag zum Gottesdienst kommen, dann sei die Kirche geöffnet.

Kalt ist es. Die dicke Strumpfhose unter den Jeans war eine richtige Entscheidung. Zwei kleine Mädchen laufen in ihren Tüllkleidchen an meiner Bank vorbei. Man zieht sich doch hübsch an heute! Genauso denken die Alten auch, eine der Frauen meine ich vom Bauernmarkt zu kennen. Sie nickt schmunzelnd zurück.
Ich verstehe kein Wort. Doch die Lieder gehen mir zu Herzen. Auf der Empore über mir singt eine glockenklare Sopranstimme, die so deutlich herauszuhören ist, dass ich mir ein Gesicht dazu vorstelle.
Da! Manches wird nun mal (fast) überall gesungen: Lobe den Herren …! Slavēsim Dievu!
Die Frauen in meiner Nähe versinken in innigem Gebet.
Ich folge meinen Gedanken und bin froh.

 

 

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Кто ищет его кошелек?

Blaubeeren! Alle zwei Tage kaufe ich mir eine große Schale. Aber auf dem Bauernmarkt gibt es nun keine mehr.
Doch!
Ach so, das sind Aronia-Beeren? Noch besser! Die sind doch so gesund. Bitte eine ganze Schale voll.
Mit dem Fuß stoße ich an etwas Hartes. Ein Portmonee. Wer hatte vor mir in der Schlange gestanden? Die Bäuerin nimmt es mir ab, findet in den Fächern einen Zettel mit Telefonnummern und nickt. Kein Problem. Man kennt sich ja sowieso.

Auf dem Heimweg probiere ich eine Aronia-Beere.
(Interessant, aber … ein Achtel der Menge hätte auch genügt).

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Mitten im Wald

Mitten im Wald – eine Ruine.
Ein Bunker? Ein Geheimversteck? Eine Falle? Oder einfach nur ein Drehort?
Auf jeden Fall: eine militärische Hinterlassenschaft.
Vielleicht spukt es hier manchmal. Das Kino im Kopf ist stärker als die Spuren selbst.

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Watson

Kater Watson – sprich: Wattzonn!!! –  ist ohne Frage der Chef des Autorenhauses. Es sieht nur so aus, als würde er die Nähe seiner menschlichen Mitbewohner suchen.  In Wahrheit wollen diese seine Aufmerksamkeit, lassen ihn teilhaben an Küchengesprächen und ermuntern ihn zu mauzenden Kommentaren in allerhöchsten Katzentönen.
Eigentlich ist Watson eine Diva. Diven genießen immer ein Vorrecht. Auf alles.

 

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Māra Zālīte

In der Hausbibliothek liegt der autobiografische Roman von Māra Zālīte. In Lettland hat er Preise gewonnen, in Deutschland fand sich lange kein Verlag für die Übersetzung. Ich nehme mir den abgehefteten Computer-Ausdruck und tauche ein in die lettische Familiengeschichte.
Die kleine Laura kehrt mit den nach Sibirien verschleppten Eltern in deren Heimat, Lettland, zurück. Also in die lettische Sowjetrepublik. Die übergroße Vorfreude mündet in neue Ängste,  Denunzationen und Zwänge.

Die Autorin war auch hier, in Ventspils.
Dann höre ich in der Gemeinschaftsküche: Wirklich jede Familie hat Deportationen nach Sibirien erlitten. Māra jedoch zählt zu denen, die darüber geschrieben haben.
https://lettlandlesen.com/

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Nachtlichter

Auf der riesigen Fläche vor dem Konzerthaus stehen tagsüber ein paar Masten, manche etwas schräg, andere wie im Lot in eine Höhe aufragend, die nur ein guter Weitwinkel ganz erfasst. Erfrischende Wasserspiele glucksen und tropfen, sprühen und plätschern hier und da – in jenem Ventspil-typischen Humor, den ich am abgestellten Regenschirm schon wahrgenommen hatte. Der wird nämlich nur von innen nass.
In der Dämmerung fügen sich die Masten zu einem Schiff …

Auch das Tintenfass steht nicht ganz im Dunkeln. Nachts werden die Federn in Licht getaucht.

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Kuldiga

Bis 1945 war die St. Katharina Kirche in Kuldiga das Gotteshaus der deutschen Gemeinde.
Der Pastor bereitet sich gerade auf seine Predigt vor, auf Lettisch natürlich, eine Stunde hat er noch. Er ist deutsch-baltischer Herkunft, sein Vati hat noch richtig gut Deutsch gesprochen. Die Russen trauten ihm nicht. Sie steckten ihn in ein sibirisches Straflager. „Schwere Geschichte“, sagt der Pastor erregt, „von sechs Männern sind fünf gestorben. Vati war stark, er war der Sechste, er kam zurück.“ Was aber hieß das dann noch – stark gewesen zu sein – nachdem das Lager ihm alles genommen hatte … Er hat seinen Schmerz, seine Sensibilität und viele deutsche Worte an seinen Sohn weitergegeben, der später in der Lettischen Sowjetrepublik geboren wurde. Manchmal, wenn dieser Sohn, der Pastor, deutsche Stimmen hört, freut er sich auf ein Gespräch. Dann gräbt er in der Familiengeschichte und kommt bis zum Urgroßvati und zur Urgroßmutti.

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Gegensätze

Am Kap Kolka, wo die westliche Brandung auf die Strömungen aus der Riga-Bucht trifft, stolpern schaumgekrönte Wellenkämme übereinander wie quietschvergnügte Welpen. Linksseitig braust der Sturm. Rechterhand, einmal um die Ecke, liegen die toten Bäume von der letzten großen Sturmflut in sonniger Stille am Strand.