Spuren im Schrank

Jetzt, da deine Fächer geleert sind, offenbarst du Narben, alter Schrank.
Du hast über zwanzig Jahre Dinge verborgen, die sonst herumgelegen hätten, und wurdest davor jahrzehntelang im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis bestaunt. Doch wer hat vor hundertzwanzig Jahren und noch früher an deinen Griffen gezogen? Welche Kleinigkeiten waren sortiert in der flachen Lade, die jetzt erst die Spuren eines früheren Fächersystems offenbart? Und woher stammt dieses Loch im Filz, ganz am Rand?
Schweigen. So sehr ich auch schnuppere und schaue.

Beim letzten Blick in die dunklen Ecken entdecke ich ein Überbleibsel aus jüngerer Zeit. Eine Foto-Speicherkarte. Die zumindest wird sich entschlüsseln lassen.

Erklärung am Stammtisch

Mein Urgroßvater Fritz Mauch (1856-1928) führte eine Gastwirtschaft in Drefahl, hielt etwas Vieh und versteckte hinter seinem Grummel-Schnurrbart reichlich Humor.
Er liebte die kurzen Wege.
Als er im Stall etwas von der Wand herunterholen, aber keinen Schritt zu viel tun wollte, griff er kurzerhand zwischen den Sprossen einer angestellten Leiter hindurch und schrammte sich die Nase blutig.
Da guckten am Abend die Männer am Stammtisch.
Fritz kam ihren Mutmaßungen zuvor: „Ick heff mien Läben lang nich wusst, dat mien Näs länger is as mien Arm.“

Weltuntergang. Ein Papier-Servietten-Spar-Appell

In der Fastfood-Zone des Einkaufszentrums gibt es auch Nischen, Zweiertische sogar. An einem solchen lümmelt ein Schuljunge, die Ohren mit Bluetooth-Kopfhörern zugeknöpft. Gebannt starrt er auf sein aufgebocktes Smartphone. Da geht gerade was ab. Entweder wird ein Serienheld abgemurkst oder der Weltuntergang steht bevor. Das Kind ist wie versteinert. Nur seine Hände machen einfach weiter, greifen blind nach links, fingern das obenauf liegende Zelltuch vom Papierserviettenstapel, falten es passgenau und schieben es auf die rechte Seite. Dort ist der Fertig-Haufen schon aus der Form geraten.
Der Imbiss-Laden ist sehr beliebt. Seit sich Kunden Servietten auch für später einstecken, braucht die Chefin ihren Sohn fast jeden Tag nach der Schule. Sie ist froh, dass der Junge flink ist. Soll er doch dabei gucken, was er will.

Bittkau. Zeitreisen am Zaun

Man guckt sich fest, will den Gesichtern auf dem Foto etwas entlocken, was sie partout nicht preisgeben können, weil die Familie stillhalten musste. Sonst wäre doch das Bild verwackelt!
Vor ihrem bescheidenen Häuschen hatten sich die Bewohner aufgereiht, fünf Kinder sind dabei, die Mädchen in gestärkten Trägerkleidern. Das ist mehr als hundert Jahre her.
Dieses Foto ist festgeschraubt am Maschendrahtzaun, der eine Brache mitten in Bittkau* umschließt. Sonst ist nichts mehr da, was erzählen könnte von dieser Familie.

Im Ort gibt es zwanzig historische Zaun-Fotos hinter Plexiglas. Da stoppt man sein Fahrrad. Immer wieder.

*Bittkau (Altmark/Sachsen-Anhalt) liegt am Elberadweg.

Die Trompetengeige

Im Normalfall klemmt man sich nur seine Violine unters Kinn, streckt den linken Arm auf Geigenhalslänge und lässt die Fingerkuppen auf den Saiten toben, wie es das Herz begehrt oder die Noten vorschreiben. Die rechte Hand streicht dazu mit dem Bogen über die Saiten, legato oder staccato oder sonstwie. Es ist nun mal ein Streichinstrument. Punkt.
Wer aber im Besitz einer Trompetengeige ist, kann sie sich auch vom Hals reißen und andersherum an die Lippen führen, um über das winzige Mundstück an der Schnecke einen Ton zu blasen.
Keine Ahnung, wie das klingt, wie das aussieht, wohin mit dem Bogen – und wie das Instrument in einen Geigenkasten passen soll.
Ein Kuriosum.

Hans Clarin

Diese Stimme! Da sehe ich gleich das Cover der alten Hui-Buh-Schallplatte aus den 70er Jahren vor mir. Das kopflose Schlossgespenst verjagt die Gräfin Etepetete mit seiner rostigen Rasselkette und mit viel Geheule. Und ich saß damals als kleines Mädchen unterm Tisch. Die Decke hing nur so weit herunter, dass das Licht noch reichte für Gruselmomente mit dem Plattencover.
Hans Clarin.
Im Radio habe ich ihn nun wiedergehört – Am Morgen vorgelesen – mit der „Farm der Tiere“ von George Orwell. Obwohl Schwein Quiekschnauz kein Gespenst ist und die Fabel beklemmend aktuell, sehne ich mich plötzlich wohlig nach einer Tasse heißen Kakao ohne Pelle, für die ich damals immer unter dem Tisch hervorkriechen musste wegen der Schweinerei, die niemand riskieren wollte.

Meinem Vater († 29.03.2025)

Als wir das Fortsetzungsheft von den kleinen Geigen-Duetten angeschafft hatten, war ich zehn.
Es war an einem Ferientag.
Zuerst hast du deine große, dann meine kleine Geige gestimmt. Wer hat das letzte Wort? hieß unser Stück. Ich durfte mich gleich an der ersten Stimme versuchen. Die setzte energischer ein. Dich hat gefreut, wie mich das antrieb.
Freche Punktierungen, Pausen, die keine waren, sondern eher kleine Sprungbretter in rhythmische Neckereien, die zeitversetzt erwidert wurden, erst forsch von der großen, dann schmeichelnd von der kleinen Geige.
Bei diesem Stück habe ich Taktgefühl gelernt und auch, wie es klingt, wenn wir uns richtig die Kante geben und irgendwann wiederfinden, bis alles verknotet ist und in Lachtränen erstickt.
Wie später so oft, auch ohne unsere Geigen.