Meinem Vater († 29.03.2025)

Als wir das Fortsetzungsheft von den kleinen Geigen-Duetten angeschafft hatten, war ich zehn.
Es war an einem Ferientag.
Zuerst hast du deine große, dann meine kleine Geige gestimmt. Wer hat das letzte Wort? hieß unser Stück. Ich durfte mich gleich an der ersten Stimme versuchen. Die setzte energischer ein. Dich hat gefreut, wie mich das antrieb.
Freche Punktierungen, Pausen, die keine waren, sondern eher kleine Sprungbretter in rhythmische Neckereien, die zeitversetzt erwidert wurden, erst forsch von der großen, dann schmeichelnd von der kleinen Geige.
Bei diesem Stück habe ich Taktgefühl gelernt und auch, wie es klingt, wenn wir uns richtig die Kante geben und irgendwann wiederfinden, bis alles verknotet ist und in Lachtränen erstickt.
Wie später so oft, auch ohne unsere Geigen.

Feldstadt. 17 Uhr

Es nieselt.
Von den Hauswänden hallen starke, reine Töne eines Euphoniums wider. Doch heute steht kein Zuhörer am Zaun des Augustenstifts. Auch hinter der Hecke gibt es kein Publikum.
Jetzt regnet es richtig.
Peter Voss (94) bläst trotzdem. Wie jeden Tag. In der mannshohen Nische unter der Veranda bleibt er sogar trocken dabei.
Und – siehe da – gegenüber, im Raucherpavillon hinter der Stiftsküche, hat eine Gruppe Getreuer es sich gemütlich gemacht. Eng gedrängt auf den Bänken, die Rollatoren zusammengeklappt, lauschen die Eingemummelten im Glashäuschen und lassen den zusätzlichen Rollstuhl noch mit hinein, damit das Mütterchen nicht nass wird.
Manche bewegen die Lippen, weil es doch ihre Lieder sind.
„Das erste Mal hier?“ fragt eine Hochbetagte.
Doch das Mütterchen staunt nur mit großen Augen.
„Ich seh doch fast nichts mehr“, schiebt die Frau entschuldigend hinterher. Und dann: „Eins kommt noch.“
Peter Voss hat sogar noch drei Lieder.
Schließlich – Mendelssohn Bartholdy: Verleih uns Frieden gnädiglich.

Was für ein Appell.

Hofknicksig. Mitten im Weltkulturerbe

Wie aus dem Hut gezaubert gibt es für ein halbes Jahr eine Fotoausstellung* mit großformatigen Schwerin-Ansichten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zur Vernissage stellten sich auch Angehörige des letzten Großherzogs ein. Sie hatten historische Schnappschüsse aus dem Familienleben beigetragen, mussten aber auf Stehplätzen verweilen – so viele Leute waren gekommen.
Kurator Jakob Schwichtenberg drehte an einer Grammophon-Kurbel und schwenkte den Tonarm auf eine hundert Jahre alte Schellackplatte. Marschmusik. Man konnte sich wahrlich versenken. Ein ordentliches Stück zurück, viel mehr noch als ein Jahrhundert. Es passte.
„Das ist mir alles viel zu hofknicksig“, murmelte ein kritischer alter Freund.

So gab es gar noch ein Wort zum Versenken.

*Schwerin, Puschkinstraße 61/65

Erster sein!

Manchmal braucht man flinke Füße oder die Motivation eines frühen Vogels.
An der Theatergarderobe nach der Vorstellung zum Beispiel, beim Wettrennen oder wenn man sich etwas aussuchen darf.
Meist kann man sich ja Zeit lassen.
Aber wenn’s nun mal kribbelt …?

 

Bauerntöchter

Die kluge Bauerntochter in meinem Märchenbuch hat mich immer an Heike erinnert. Heike hatte auch einen so langen, dicken Flechtzopf. Ich mochte sie schon im Kindergarten gern anschauen und genoss dann die fröhliche Spannung in meinen Mundwinkeln, denn es konnte uns nichts passieren, wenn sie da war. Heike lachte einfach jeden Kummer von Herzen weg. Auch, als wir uns im ersten Schulwinter einen Schlitten teilten und am Rodelberg plötzlich weit durch die Luft flogen, so dass mir ernsthaft der Atem wegblieb.  Sie quietschte vor Vergnügen und klopfte mir auf den Rücken. Vor fünfzig Jahren. Dann zogen wir in die Stadt. –

Wie immer freitags strample ich im Fitnessstudio auf dem Ergometer, angefixt von meiner Route entlang den Display-Balken, vier Minuten bergauf noch – da streicht mir jemand über die Schulter.  Ich brauche keine Sekunde, und meine Mundwinkel huschen in die Höhe. Während der Routencursor allmählich bergab sinkt, lachen wir uns in die frühen Siebziger, als würde es noch Momente geben, in denen uns nichts passieren kann.

Ein Ohrenzeugenbericht

„Sowas Dummes. Doch falsch gekauft!
Von wegen Tageslichtweiß.
+ + +   Schepperklirr   + + +
Mist.
Ach. Ist sogar heilgeblieben.
Passt aber nicht.
Guckt raus.
Oder so?
Na los. Noch ein Stück.
Geht doch!

Hey, ich habe eine neue LED-Birne gekauft. Die ist zwar zu groß, aber das ist egal!“

Grippe

Mehrere Eiszeiten streifen ihren Rücken und zerbröckeln an den Oberarmen. Ihre Stirn wird in die Breite gezerrt, damit sich noch mehr Boxfäuste hinterm First austoben können, während scharfkantige Steinchen am Kehlkopf entlang rutschen und sich bei jedem Niesen neu sortieren.
Manchmal kommt jemand und bringt Ingwer-Sud, einen kalten Umschlag oder die Post. Sie will aber nichts. Ihre Welt ist auf die Größe eines Bettlakens geschrumpft.
Da sagt jemand: „In ein paar Tagen ist alles wieder gut.“

Ein Sonntagnachmittag

Im klaren Wintersonnenschein
frieren schnell die Worte ein.
So denkt der Gast der Scrabble-Runde
und klingelt zur besagten Stunde.

Noch ist die Brille ganz beschlagen,
doch wird schon Tee zum Tisch getragen.
Die Sonntagnachmittagsrivalen
frönen ihren Ritualen.

Zwei Spieler sind – wer schafft das schon –
seit dreißig Wintern in Pension,
blitzgescheit und wesensgleich
im wöchentlichen Wortspielstreich.

Die grünen Bänkchen sind bereit,
man lässt sich mit dem Säckchen Zeit
bei der Wahl der Holzquadrate,
den Duden zieht man nicht zu Rate.

Den Punktwert hat man stets im Blick,
doppelt, dreifach mit Geschick –
und wird dabei ein Wort erfunden,
ist man an Regeln streng gebunden.

Ist dann das Säckchen wirklich leer,
gibt auch manch‘ Kürzel nichts mehr her,
dann staunt man kurz, doch sagt nicht viel,
denn nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

ksh

Ellinor (1936-2024)

Sie hat Romane, Geschichten, das Nachdenken und die Lieder geliebt. Wie sollte sie sich nun in einem Pflegeheim einleben? (Mit Whats-App-Nachrichten nach draußen zum Beispiel):
– Hab ein klitzekleines Zimmer. Da passt kein einziges Buch rein!
Wenn deine Hände frei sind, passt dort genau ein Buch rein. Das lässt sich austauschen.
Stimmt.
Der Wälzer, den sie sich dann vornahm, war wie ein Ziegelstein in ihrem Bett. Zwei Tage vor dem Jahreswechsel sah ich, dass er ihr zu schwer geworden war. Aber zuhören konnte sie noch, staunen, schmunzeln, ganz fest beide Daumen drücken und winken zum Schluss.
Den nächsten Morgen hat sie nicht mehr erlebt.
Wieder standen wir an ihrem Bett. Sie sah entspannt aus wie am Abend zuvor, eine Amaryllis in den verschränkten Händen.

Ellinor ist gegangen.
(ELSA* bleibt mir).

 

*Interzonenjahre, 2020.