Die Welt im Kleinen

Er will noch schnell die Kerzen am Baum anzünden, ehe die Gäste kommen. Ein letztes Mal vielleicht vor dem Abschmücken.
Aus Gewohnheit schüttelt er zunächst die Streichholzschachtel, weil man ja hören kann, was noch in der Lade ist.
Das erste Streichholz versagt schon beim Schaben an der Reibefläche, obwohl es dort einen breiten Strich hinterlässt. Er zieht es schwungvoll zurück und sieht das rote Köpfchen bröckeln. Das zweite bricht ab und hat dennoch Feuer gefangen, sozusagen am seidenen Faden. Schnell auspusten.
Es klingelt. Die Gäste. Da sind sie.
Beim dritten wird er nun hektisch. Es zündet nicht. Ausschuss.
Das vierte will auch nicht. Früher hatte er sogar den Ehrgeiz, alle zwölf Kerzen mit einem Hölzchen zu erreichen.
„Oh, wie romantisch“, staunt einer der Gäste und wandert mit seinem Feuerzeug von Docht zu Docht.
Erledigt.
Die abgebrannten und verhinderten Hölzchenreste landen beim Hausherrn immer in dem kleinen Keramik-Pantoffel, weil es eine Unart ist, sie in die Schachtel zurückzustecken.

 

Ein platter Zufall

Der erste Weihnachtsmann ihres Lebens hatte keine Augen. Ein bizarrer Anblick für eine Fünfjährige. Sie fragte sich, wie der überhaupt in die Stube gefunden hatte. Und dann versicherte er ihr noch, sie das ganze Jahr im Blick gehabt zu haben. Wie denn? Etwa durch die Löcher, die in sein Gesicht aus zerknitterter Pappe geschnitten waren? Dahinter sah sie nur schwarze Luft. Falls es so etwas gab.
Wer wusste das schon.
Seine Hände aber waren zweifellos echt. Seltsam: Er trug sogar einen Ehering.
Und er hatte den gleichen platten Daumennagel wie Onkel Günti.
Sie entspannte sich. Wenn der so war wie Onkel Günti, dann hatte er gar nicht die Zeit, sie immer im Blick zu haben.
Welch ein Glück.

Sieben Leben …, so sagt man

  • Die Nachbarskatze hatte einen Unfall und musste operiert werden. Mit der Halskrause sieht sie wie eine Diva aus, obwohl sie auf ihrer Hausdecke gegen die ungewohnte Schlagseite gerade nicht ankommt. Nur mit aufwändiger Vorbereitung schafft sie es auf die Vorderbeine. Der rasierte Schenkelstumpf, an dessen Nahtfäden sie nicht kratzen darf, ist ihr manchmal noch im Weg. Beim Drehen immer diese Unwucht!
    Doch Gewöhnung ist alles. Es wird Gras über die Sache wachsen. Genauer: Fell.
    Und die Katze wird dreibeinig unterwegs sein.
    Sechs Leben hat sie noch vor sich.

Der Nikolaus

Was am Öffnen einer Erdnuss so besonders sein soll?
Na – die Gelegenheit, dem Nikolaus zu begegnen!
Liegt dann nämlich der nussige Kern halbiert in seiner Schale, springt er (fast) sofort ins Auge. Der Nusskörper selbst ist der umhüllende Mantel, und das winzige Etwas am oberen Rand zeigt das Altherren-Gesicht mit dem geteilten Bart. Irgendwann sieht man’s. Und dann immer wieder, bei jeder Erdnuss. Ein Leben lang.

In Fribourg (Schweiz), wo der Heilige Nikolaus als Schutzpatron verehrt wird, lernt man diesen besonderen Blick auf … peanuts.

 

 

So viel Zeit muss sein

Auch an einem kalten, sehr frühen Novembermorgen, an dem sich das Fußgänger-Ampelrot in den Pfützen spiegelt, rennt die Zeit.
Zwei Erstklässler mit riesigen Schulranzen sind noch nicht ganz wach.
Der Vater des einen Jungen bringt sie zur Straßenbahn und ruft: „Grün!“ und dann: „Die Bahn kommt!  Schnell!“ Was für eine Hatz.
Auf der anderen Straßenseite stolpert er fast über seinen Sohn, der einfach stehengeblieben ist, um sich nochmal umzudrehen und beide Arme dem Vater entgegenzustrecken. Einmal drücken noch. Ganz fest.
Der Vater will ihn schon wegschieben, weil doch die Zeit rennt.
Aber der Straßenbahnfahrer wartet.

Frühsport

Ehe sie morgens den Kater begrüßt, macht sie den Hund. Vorher hat sie sich schon im Liegen gedehnt und den Pilatesring traktiert. Der wird zehn Mal gestaucht, auseinandergezogen und zur Beinstreckung in der Schwebe gehalten. Im Laufe der Zeit ist er zum Ei mutiert, so wie übrigens auch der Pezziball, der unter ihr nach Luft japst. Nur die Therabänder halten so lange bis sie reißen. Da gibt es nur ein Davor und ein Danach.
Gut zwanzig Minuten geht das so.
Doch wehe, es öffnet jemand die Zimmertür.

 

(… doch das Dessert ist köstlich!)

Die Kneipe ist deftig und rustikal, die junge Kellnerin ebenso. Leider sind die Bratkartoffeln versalzen.
„Hier auch alle zufrieden und glücklich?“ Was man so fragt, hat sie drauf.
Wir aber auch: „Der Koch ist verliebt!“
Sie nestelt die Finger unter dem Schürzchen hervor und setzt ihre Fäuste an die Hüften: „Na, hoffentlich! Wir haben letzte Woche geheiratet!“
Speck, Zwiebeln, Kartoffelscheiben, Pfeffer, Salz, … Salz, Salz.
Er liebt sie wirklich.

Chaplins World*

Alles beginnt in einem großen Kinosaal.
Der Vagabund. Fliegende Torten. Horden von Gendarmen. Das charmante Hut-Lüpfen nach präzisem Fußtritt in die Gegenrichtung. Mit den berühmten Schuhen, versteht sich. Szenen, die das Zwerchfell seit der Kindheit kennt und die dennoch so frisch daherkommen, dass man immer mehr möchte. Auch von denen, die tieftrauriger kaum sein könnten.
Nach diesen nur zehn Minuten ist das Saallicht herzlich unwillkommen! Doch rollt sich im nächsten Moment die Leinwand effektvoll in die Höhe, und der Weg ist frei, in die Szenen, Kulissen, Geschichten und das Leben von Charlie Chaplin einzutauchen. Mit Haut und Haar.

*Museum in Corsier-sur-Vevey, Schweiz

Wanderschuhe

Damals, als wir Kinder waren, hätten sich alle Steinpilze und Maronen vor mir versteckt, hieß es immer. Wenn ich mit meinen gelben Gummistiefelchen durch den Wald hüpfte, sollen sich die braunen Kappen schon gegenseitig gewarnt haben. Nur die Fliegenpilze, die bereits von Schnecken Zerfetzten und die Zerlatschten sprangen mir ins Auge. „Ein Pi-hilz!“, rief ich dann in alle Richtungen und rückte meine Brille, deren rechtes Glas verklebt war, wieder gerade.
Seit ich einen einigermaßen klaren Blick und ein eigenes Pilzmesser habe und meine Gummistiefel robusten Wanderschuhen gewichen sind, muss ich Maronen und Steinpilze nicht mehr suchen. Ich zwinge mich sogar, auch mal etwas Essbares stehenzulassen. Für den Kreislauf der Natur, für den nächsten Sucher oder für einen anderen maßlos überfüllten Pilz-Kofferraum.

Geleimte Wandfarbe

Kann sich noch jemand an den 3. Oktober 1990 erinnern?
Das Semester hatte gerade begonnen und bei mir damit das dritte Studienjahr. Die Portmonees waren mit der Deutschen Mark merklich schwerer, fast egal, ob man Geld hatte oder nicht. Und in meiner Berliner Küche stand ein Tiefkühl-Würfel, den ich nie gekauft hätte, wenn der in der alten Währung nicht plötzlich so billig gewesen wäre. Wer wusste denn, was kommen würde. Tiefgekühltes konnte erstmal nicht schlecht werden. Wenigstens das.
Holterdipolter wurde dann wiedervereinigt. Ich war noch gar nicht so weit. Am 3. Oktober, einem vorlesungsfreien Tag mitten in der Woche, renovierte ich mit einer Studienfreundin deren neue Wohnung. Mit einer Baby-Badewanne voll geleimter Wandfarbe, in die wir Latex farblos gerührt hatten, wie immer zu DDR-Zeiten. Am Abend waren wir müde und die Wände schneeweiß wie unbeschriebene Blätter.