Der Nikolaus

Was am Öffnen einer Erdnuss so besonders sein soll?
Na – die Gelegenheit, dem Nikolaus zu begegnen!
Liegt dann nämlich der nussige Kern halbiert in seiner Schale, springt er (fast) sofort ins Auge. Der Nusskörper selbst ist der umhüllende Mantel, und das winzige Etwas am oberen Rand zeigt das Altherren-Gesicht mit dem geteilten Bart. Irgendwann sieht man’s. Und dann immer wieder, bei jeder Erdnuss. Ein Leben lang.

In Fribourg (Schweiz), wo der Heilige Nikolaus als Schutzpatron verehrt wird, lernt man diesen besonderen Blick auf … peanuts.

 

 

So viel Zeit muss sein

Auch an einem kalten, sehr frühen Novembermorgen, an dem sich das Fußgänger-Ampelrot in den Pfützen spiegelt, rennt die Zeit.
Zwei Erstklässler mit riesigen Schulranzen sind noch nicht ganz wach.
Der Vater des einen Jungen bringt sie zur Straßenbahn und ruft: „Grün!“ und dann: „Die Bahn kommt!  Schnell!“ Was für eine Hatz.
Auf der anderen Straßenseite stolpert er fast über seinen Sohn, der einfach stehengeblieben ist, um sich nochmal umzudrehen und beide Arme dem Vater entgegenzustrecken. Einmal drücken noch. Ganz fest.
Der Vater will ihn schon wegschieben, weil doch die Zeit rennt.
Aber der Straßenbahnfahrer wartet.

Frühsport

Ehe sie morgens den Kater begrüßt, macht sie den Hund. Vorher hat sie sich schon im Liegen gedehnt und den Pilatesring traktiert. Der wird zehn Mal gestaucht, auseinandergezogen und zur Beinstreckung in der Schwebe gehalten. Im Laufe der Zeit ist er zum Ei mutiert, so wie übrigens auch der Pezziball, der unter ihr nach Luft japst. Nur die Therabänder halten so lange bis sie reißen. Da gibt es nur ein Davor und ein Danach.
Gut zwanzig Minuten geht das so.
Doch wehe, es öffnet jemand die Zimmertür.

 

(… doch das Dessert ist köstlich!)

Die Kneipe ist deftig und rustikal, die junge Kellnerin ebenso. Leider sind die Bratkartoffeln versalzen.
„Hier auch alle zufrieden und glücklich?“ Was man so fragt, hat sie drauf.
Wir aber auch: „Der Koch ist verliebt!“
Sie nestelt die Finger unter dem Schürzchen hervor und setzt ihre Fäuste an die Hüften: „Na, hoffentlich! Wir haben letzte Woche geheiratet!“
Speck, Zwiebeln, Kartoffelscheiben, Pfeffer, Salz, … Salz, Salz.
Er liebt sie wirklich.

Chaplins World*

Alles beginnt in einem großen Kinosaal.
Der Vagabund. Fliegende Torten. Horden von Gendarmen. Das charmante Hut-Lüpfen nach präzisem Fußtritt in die Gegenrichtung. Mit den berühmten Schuhen, versteht sich. Szenen, die das Zwerchfell seit der Kindheit kennt und die dennoch so frisch daherkommen, dass man immer mehr möchte. Auch von denen, die tieftrauriger kaum sein könnten.
Nach diesen nur zehn Minuten ist das Saallicht herzlich unwillkommen! Doch rollt sich im nächsten Moment die Leinwand effektvoll in die Höhe, und der Weg ist frei, in die Szenen, Kulissen, Geschichten und das Leben von Charlie Chaplin einzutauchen. Mit Haut und Haar.

*Museum in Corsier-sur-Vevey, Schweiz

Wanderschuhe

Damals, als wir Kinder waren, hätten sich alle Steinpilze und Maronen vor mir versteckt, hieß es immer. Wenn ich mit meinen gelben Gummistiefelchen durch den Wald hüpfte, sollen sich die braunen Kappen schon gegenseitig gewarnt haben. Nur die Fliegenpilze, die bereits von Schnecken Zerfetzten und die Zerlatschten sprangen mir ins Auge. „Ein Pi-hilz!“, rief ich dann in alle Richtungen und rückte meine Brille, deren rechtes Glas verklebt war, wieder gerade.
Seit ich einen einigermaßen klaren Blick und ein eigenes Pilzmesser habe und meine Gummistiefel robusten Wanderschuhen gewichen sind, muss ich Maronen und Steinpilze nicht mehr suchen. Ich zwinge mich sogar, auch mal etwas Essbares stehenzulassen. Für den Kreislauf der Natur, für den nächsten Sucher oder für einen anderen maßlos überfüllten Pilz-Kofferraum.

Geleimte Wandfarbe

Kann sich noch jemand an den 3. Oktober 1990 erinnern?
Das Semester hatte gerade begonnen und bei mir damit das dritte Studienjahr. Die Portmonees waren mit der Deutschen Mark merklich schwerer, fast egal, ob man Geld hatte oder nicht. Und in meiner Berliner Küche stand ein Tiefkühl-Würfel, den ich nie gekauft hätte, wenn der in der alten Währung nicht plötzlich so billig gewesen wäre. Wer wusste denn, was kommen würde. Tiefgekühltes konnte erstmal nicht schlecht werden. Wenigstens das.
Holterdipolter wurde dann wiedervereinigt. Ich war noch gar nicht so weit. Am 3. Oktober, einem vorlesungsfreien Tag mitten in der Woche, renovierte ich mit einer Studienfreundin deren neue Wohnung. Mit einer Baby-Badewanne voll geleimter Wandfarbe, in die wir Latex farblos gerührt hatten, wie immer zu DDR-Zeiten. Am Abend waren wir müde und die Wände schneeweiß wie unbeschriebene Blätter.

Der vorletzte Tag – NOTIZEN AUS VENTSPILS

Mein letzter Auftritt in der Autorenhaus-Küche, diesmal mit „Himmel und Erde“! Niemand wollte mir ja glauben, dass die Kombination von Äpfeln und Kartoffeln, im Topf zusammengekocht, zu einer Gaumenfreude werden könnte. (Natürlich bedarf es zusätzlich einiger magical secrets). Und dann?
Weggeschlürft wurden der Himmel und die Erde! Und anschließend noch die Baltische Brotsuppe, ein feines Dessert von Ieva.

Hinweggeschlürft haben sich nun auch die vier Wochen. Die Zeit war viel zu kurz, um einen ganzen Roman zu schreiben. Jedoch sind die ersten Kapitel jetzt auf meiner Festplatte …

Das Vertikalklavier – NOTIZEN AUS VENTSPILS

Mit seinem Vertikalklavier verfügt das Konzerthaus von Ventspils über eine Attraktion, die – so sagt man – weltweit ihresgleichen sucht. Das Instrument steht nicht auf der Bühne wie der Steinway, sondern hängt mit seinen bis zu fünf Meter langen Saiten hoch oben an der linken Hallenwand. Beim Konzert am Sonntag kletterte der Pianist Andrejs Osokins die versteckte steile Treppe hinauf und entlockte dem nach unten ausgerichteten Resonanzraum kapriziöse, tongewaltige Überraschungen. Lettische Klaviermusik des 21. Jahrhunderts. Der Applaus nahme kein Ende, drei der Komponisten waren zugegen, einer fasste sich ergriffen ans Herz.