„Wie geht es Ihnen?“, fragt sie den 94jährigen.
„Altersentsprechend“, erwidert er.
„Möge es so bleiben“, entgegnet sie und glaubt, dass das gut sei.
„Nichts bleibt so. Ich habe neulich einen Freund beerdigt. Nun ist alles anders.“
Sicher ist auch das altersentsprechend, denkt sie und fürchtet sich ein bisschen.
HEINZELMÄNNCHENS WACHPARADE. Zum 30. der Schelfoniker
Jedes Orchester braucht HEINZELMÄNNCHEN als Proben- und Konzerthelferlein. Sie spitzen beflissen Bleistifte, bestreichen Bögen mit Kolophonium, putzen Blech und platzieren manchmal gar Konfektstückchen auf den Pulten. Außerdem schubsen sie den Lampenfieber-Regler und reagieren nur verstimmt, wenn sie sich auf den Schlips getreten fühlen. Regelmäßig vor den Jubiläumskonzert-Proben stehen die Heinzelmännchen als ganze Kompanie vor der Saaltür der Schelfoniker, bitten um Einlass und heben für ihre WACHPARADE den eigenen Taktstock. Dann geht es nämlich gegen den Strich: Humm-da, humm-da, humm-da, humm-da … und – plauz aufs zweite Sechzehntel! – setzen die Geigen ein. Synchron natürlich! Da stauben die Bögen, und es gibt kein Halten mehr. Zwischen den Pulten wuseln die Kerlchen hin und her und dann bringen sie auch noch fünf Halunken zum Einsatz: B, Es, As, Des und Ges. Da gibt’s ordentlich was zu fingern und zu feiern. Erst recht im finalen Fortissimo. Wenn wir eine Pauke hätten, käme es zum Heinzelmännchen-Feuerwerk.
À propos: Spielt jemand Pauke? Für die Heinzelmännchen? Oder für alles, was sonst so auf’s Pult kommt? Wir proben immer montags. Das wird sich in den nächsten 30 Jahren auch nicht ändern.
Das unwirkliche Blau
Dieses Mal gehe ich nur wegen der Uecker-Fenster in den Dom.
Wie ein Wasserfall kommt das Blau auf mich zu, zerrissen, schräg und beinahe tosend. Hellblau und Weiß schimmern dazwischen, auch beim zweiten Fenster, das wie aus dem Rahmen gefallen scheint. Ein gotisches Fenster im gotischen Fenster, nur nach links runtergerutscht und so blau, wie man es sich nur vorstellen kann. Und hellblau. Und weiß eher hintergründig, doch wer kann sich da schon sicher sein.
„Das wird ja türkis“, sagt eine Frau neben mir und fingert auf dem Smartphone-Foto.
Bei mir wird alles Hellblaue auch türkis. Ich probiere es immer wieder mit dem Handy, verändere die Einstellungen und vermisse meine Kamera. Ist das nun ein Trick Günther Ueckers oder ein farbspektrales Phänomen, das mein schlauer, alter Physiklehrer erklären könnte?
Ich höre ihn schon stöhnen: „Ach, Mädel …“
Ein Abschied
Wie von Geisterhand geschubst flog die Uhr aus meinem Umkleidespind, als ich in das Dunkel des Wäschefachs gegriffen hatte. Sie landete seitlich auf dem gefliesten Fußboden, und ich dachte zunächst nur: Sieh an, meine Uhr! Im Augenblick des Aufhebens zweifelte ich jedoch an meiner Wahrnehmung. Hatte mir die Sauna zu sehr zugesetzt? Fast alle Zahlen waren von ihren Plätzen auf dem Ziffernblatt gesprungen und tanzten zwischen den Zeigern herum. Ich schüttelte die Uhr vorsichtig – wie früher das Geduldsspiel mit den kleinen Kugeln, die in ihre Löcher kullern sollten. Da rutschten die 9 und die 11, die 3 und fast alle anderen Zahlen unter das Ziffernblatt, verabschiedeten sich gar auf ihrer Kehrseite und suchten sich einen Platz im Uhrwerk.
Schließlich blieb die Zeit stehen …
Tiefbau
Ein Schlund. Nach einem halben Meter knickt die Höhle zur Seite weg, so dass nicht erkennbar ist, wie sich das System von Gängen entfaltet und ob die Dachsfamilie gerade zu Hause ist.
Menschenkinder könnten hineinrutschen, doch kommen die Kleinen nicht auf diesen Hügel. Das schickt sich nicht.
Es ist ein Grab.
Martha und Hugo Berwald – jaja, der Bildhauer – wurden 1937 hier bestattet.
Nun jedoch scheint dieser Ort belebt zu sein.
Früh im Bus
Sie zieht mit ihrem Trolley viele Blicke auf sich, als sie hastig den Klappsitz ansteuert und sich auf das Polster fallen lässt.
Angekommen! Nicht wegrollen, Tasche!
Sie streift die Schuhe ab, fummelt die Socken von den Füßen, kramt in ihrem Hackenporsche, zieht ein anderes Paar Schuhe hervor und wühlt so lange, bis sie zwei ineinander verknotete Strümpfe gefunden hat. Sie zerrt die Socken auseinander, schlüpft eilig hinein und schiebt ihre Füße in die Schuhe.
Ausatmen.
Rausgucken.
Der Bus ist schon auf der Brücke.
Sie legt den Anorak ab, quält sich aus ihrem Pullover, kramt nach einem anderen, kann sich lange nicht entscheiden und sitzt eine Weile im Unterhemd, bevor sie sich für ein Langarm-Shirt entscheidet. Eine glitzernde Jacke, etwas schäbig, aber noch tauglich, zieht sie drüber. Dann fingert sie ein buntes Haarband hervor, mit dem sie die stumpfen Strähnen zusammendrückt.
In der Fensterscheibe kann sie sich sehen. Sie neigt den Kopf ein wenig.
Der Tag kann beginnen.
Schabbach. Hinter den Kulissen von HEIMAT
Schabbach gibt es nur im Film.
Der Drehort heißt Gehlweiler. Hier können Fans von Edgar Reitz auf Spurensuche gehen.
Ich bin also eingetaucht in die Welt der tiefen Zimmerdecken, unter denen die Sehnsüchte schmerzhafte Kreise ziehen.
Zunächst ist im Ort nichts wiederzuerkennen. Doch hat das Dorf im Hunsrück einen kurvigen Straßenabschnitt mit einer alten Schmiede und ein paar Wohnhäusern, vor denen nun Fototafeln aufgestellt sind. Die modernen Fassaden wurden 2012 für die Drehzeit des Films DIE ANDERE HEIMAT vollständig verkleidet und die Straße zu einer Suhle aufgeschüttet und breitgefahren.
So entstand eine Kolonie benachbarter Höfe mit lehmverputzten Fachwerkhäusern und einem matschigen Fahrweg, über dessen tiefe Spurrillen das Federvieh flattern konnte, als sei man im Jahr 1843.
Vier Monate haben die betroffenen Bewohner Gehlweilers hinter den Potemkinschen Fassaden ihr eigenes Leben irgendwie weitergeführt. Wenn es passte, haben sie mitgespielt.
* DIE ANDERE HEIMAT: Chronik einer Sehnsucht.
HERZKASPERTHEATER – mit Leif Tennemann
Lesung am 14.12.2023 um 19 Uhr
im Alten Pferdestall Fahren
Dorfstraße 27 in 23992 Zurow OT Fahren
Veranstalter: Kulturverein „Alter Pferdestall Fahren“
Hinweis vom Veranstalter
Hier findet Ihr uns:
Mit dem Auto in Zurow (Abfahrt A20) in Richtung Fahren abbiegen (und dann an der Weggabelung links halten). Im Dorf Fahren nach der Bushaltestelle links abbiegen.
Mit dem Zug bis Wismar (oder Blankenberg) fahren, dort in den Bus umsteigen bis Zurow, dann noch 2 km zu Fuß.
Wichtig für das Navi: „Zurow OT Fahren“ eingeben und kontrollieren, ob „unser Fahren“ in der Nähe von Zurow angezeigt.
Es werden Snacks und Getränke gereicht.
Eintritt 10€ bis 20€ nach eigenem Ermessen
Lesung in Schwerin-Medewege
am 10. November 2023 um 19:30 Uhr
im Landhaus Schwerin
An der Chaussee 28
aus HERZKASPERTHEATER
Musikalische Begleitung: Klaus Gebauer, Cello
Veranstalter: Förderverein der Kirche zu Kirch Stück e.V.
Zwei Hornissen. Vielleicht auch drei
Zum Ende der Orchesterprobe sind alle etwas träge. Doch der Dirigent lässt noch nicht locker. Er holt mit beiden Armen aus, verharrt und tupft kurz und heftig Akzente in die Luft. Jeder hat seinen, sobald er dran ist. Reihum.
Sein Blick bleibt plötzlich am Kronleuchter hängen – zunächst nur neugierig. Dann lässt er die Arme sinken.
Nach und nach wenden sich die Köpfe der großen Lampe zu. Geigenbögen werden abgelegt. Eine Bratschistin zieht den Kopf ein. Stille – für ein paar Sekunden, in denen ich nicht herausfinde, ob sich da oben vielleicht die Decke aufgetan hat, wofür auch immer. Ich sitze nämlich gerade ungünstig und sehe gar nichts.
Was dem Einen das Herz in die Hose jagt, muss der Anderen erstmal genau gezeigt werden.