Ein Liebesbrief

Das Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop lud ein, einen Liebesbrief an die Natur zu schreiben.

Liebes gefiedertes Mütterchen, das du ja jetzt bist, nachdem du dein Nest so umsichtig gebaut und dann wochenlang bebrütet hast. Mit dem Schnabel hast du alles von innen noch gepolstert und ausgeglichen. Was der Alte dir anschleppte, hat immer irgendwohin gepasst.
Aber plötzlich war Leben in der Bude und zum Putzen blieb keine Zeit mehr. Die Kleinen hatten es gut und konnten es kaum abwarten, von der hohen Nestkante ins Wasser zu stolpern. Manchmal hast du sie zeternd wieder zurückgeholt, weil sie noch nicht dran waren. Immer schön der Reihe nach. Erst mussten sie doch gehudert und gepäppelt werden, ehe sie probieren durften, ob das Wasser sie trug!
Zehn waren es bestimmt schon, als sich schließlich dein Nachzügler aus der Schale wälzte. Du hattest gerade nicht hingeschaut, als er, noch ganz feucht im Flaum, sofort über die Reling stürzte. Es platschte kaum, aber du warst mit einem Satz bei ihm. Er war untergetaucht und für einen Moment zeigte sich über Wasser nur seine knallrote Kopfhaut.  Mit dem Schnabel hast du ihn gestützt, warst ihm Schwimmhilfe und rettendes Muttertier zugleich.
Solange es diese Instinkte, den naturgegebenen Beschützer-Willen und die erforderliche Kraft gibt in der Not, habe ich Vertrauen …

Die Nordumgehung

Als Erstklässler erschien uns unser Schulweg endlos. Wir wohnten in Frankenhorst, einem versteckten Winkel am Ziegelaußensee. Wenn wir ins Dorf hoch wollten – eigentlich wollten wir nicht, weil auf dem Schulhof nun mal auch gerauft, gekloppt und geschimpft wurde – dann mussten wir das große hügelige Feld zwischen Carlshöhe und Wickendorf umrunden. Falls Bauer R. den Ganter draußen hatte, nahmen wir einen Umweg, rannten ein Stück weit über die Ackerfurchen und hatten noch an der Klassenzimmertür Matschbrocken an den Sohlen.
Mittags trödelten wir zurück. Ich tapste am katzenkopfgepflasterten Schmiedeberg auf meinen Lieblingsstein und freute mich auf die Ruhe, die sommers erst hinter der Badestelle einsetzte. Dort begann der Sandweg, der bis zum Paulsdamm führte und auf dem nach hunderten Kinderschritten rechterhand der Weg nach Frankenhorst abging. Wir redeten uns damals ein, dass es gut war, weitab zu wohnen. Umso unberührter und heiliger blieb das verwunschene Zuhause. In der Schule gab es zwar Wasserklosetts, aber bei uns war es anheimelnd und ofenwarm. Vom Kinderzimmer aus sahen wir durch den Park auf den See. Meine Schwester und ich waren einander genug.

Mehr als vier Jahrzehnte später wird die Streckenführung der großen Nordumgehung geplant. Zwischen Carlshöhe und Wickendorf soll quer über den Acker die Trasse gebaut werden, knapp am Bauern R. vorbei. 33 Millionen Euro werden die 3,9 Kilometer kosten.
Da kann der Ganter noch so mit den Flügeln schlagen!

Ich war schon mit den Füßen drin …

… was wahrlich keine Kunst ist bei diesen Temperaturen. Es fühlt sich fast schon wie Sommer an, wie immer an warmen Apriltagen. Und wieder ist da der Wunsch, keinen Moment dieser Übergänge zu verpassen.
In der Nische am Strand liegend sind alle Sinne hellwach. Kleine Sandklumpen lösen sich von den Füßen. Je weiter die Zehen sich eingraben, umso kälter wird es.
Dieses Zwitschern – nicht weit, im Wald! So viel chorischen Gesang hab ich hier noch nie gehört. Dazu das Anrollen der Wellen. Jede behauptet sich selbst. Für einen Moment nur.
Nein, Stille gibt es nicht, obwohl die Menschen fehlen.
Aber dort kommen zwei Kinder! Hinter der übernächsten Buhnenreihe sind sie schon. Zwei kleine Mädchen.
Noch sind sie nicht zu hören. Vielleicht aber bald, wenn ich die Augen schließe.
Ich warte …
„Meiner hat sieben.“
„Sieben gibt’s aber nicht.“
„Na, guck doch!“
„Jetzt fliegt er weg.“
Ob es wieder viele Marienkäfer gibt im Sommer? Vielleicht ist dies schon ein Zeichen.
Motorengeknatter nähert sich plötzlich. Ein Traktor mit einer Hubschaufel rollt über den Strandzugang, humpert zum Wasser, dreht eine Runde zwischen den Buhnen, greift in den dicken Tang-Teppich und tuckert mit voller Ladung zurück. Minuten später nimmt er die zweite große Schippe. Am Strand mehren sich die Reifenspuren.
Große Reinigung. Irgendwann wird es nämlich doch wieder Urlauber hier geben. Und Ballspiele, Strandzelt-Gelächter, Kühlboxen und Mütter, die ihre Kinder eincremen. Ein ganz normaler Sommer eben. Oder Spätsommer.

 

Ostern 2020

Was macht man nun mit all den Eiern,
wenn gar verboten ist das Feiern?
Lass sich niemand irreführen,
wie war das mit den Kühlschranktüren
und dem allen wohlbekannten
riesengroßen Elefanten?
Auf und rein und zugemacht!
Die Leute geben selber Acht,
nicht nur auf materielles Gut,
das Warten haben sie im Blut.
Auf dass der Kelch zieht bald vorbei,
dann sind sie letzlich wieder frei …

(Doch alle Welt – weiß Gott! – betrauert,
dass dies noch Ewigkeiten dauert).

Seid umschlungen …

… Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt!
Unsere Straße ist hundert Jahre alt, hinter den Reihenhäusern stoßen die Terrassen an Efeu-bewachsene halbhohe Mauern. Die schaffen Abgrenzung und sind dennoch kein Hindernis, wenn man miteinander kann und will.
Jetzt wollen wir. Musizieren! Singen! Gemeinsam mit Anderen, die davon wissen.
Dem achtzigjährigen Hobbygeiger im übernächsten Haus ist das Wort flashmob neu, aber für die Ode „An die Freude“ braucht er keine Noten. Die Sängerin nebenan lächelt zu ihm hinauf, da er bereits fertig am Fenster steht.
Auf der anderen Seite trommeln die Kinder schon vor der Zeit auf ihren Blumentöpfen und noch ein Haus weiter wird eine Flöte gestimmt.
Schon diese Momente kriechen unter den Anorak und landen kribbelnd auf der Haut. Mein Schal ist zu dick, doch die Geige findet ihren Platz. Es wird Zeit.
Achtzehn Uhr.
Freude. Schöner. Götterfunken. Oben am Fenster ist vom Klavier ein wenig zu hören. Gesang und Geige sind sich nahe. Die Blumentopf-Trommler gewittern gehörig und hinter dem übernächsten Efeu linkerhand gibt die muntere Flöte alles.
Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein …
Wie denkwürdig, dass ausgerechnet eine Krise uns diese innigen Minuten beschert hat.

REGEN + grün. Eine Frühlingsgeschichte aus anderen Zeiten*

Das Fahrrad hatte im Regen gestanden, und ich nehme das klatschnasse grüne Sattelmützchen mit ins Restaurant. Hier spricht, wer kann, am besten italienisch. Es schmeckt vorzüglich.
Das Sattelmützchen trocknet allmählich auf den Garderobenhaken.
Es wird beim Abschied vergessen und später sehr vermisst.
Am Tag darauf, wieder dort, hängt es nicht mehr am Haken und liegt auch nicht auf dem Boden. Also frage ich die Männer am Tresen nach dem verschwundenen Sattelmützchen.
Wie sagt man sonst dazu? Oder besser: Wie nennt man es in Italien?
Regen und grün – das versteht der drahtige Kellner und verschwindet im Hinterzimmer bei den Fundstücken.
Er scheint zu suchen.
Es dauert.
Er kommt wieder.
Und er trägt ihn wie eine Trophäe: Einen knallgrünen Regenschirm.
Na sowas. Fast richtig!

*… die erst zwei Wochen her sind

Stopp-Tanz

Früher, beim Kinderfasching, rockten wir den Partykeller der Schule. Die selbstgebastelte Diskokugel warf zitternde Lichtflecken um sich. Prinzessin und Cowboy, Schornsteinfeger und Rotkäppchen tanzten und starrten dabei auf die Hand des Discjockeys.
Stopp-Tanz war angesagt. Man musste schon vorab erahnen, wann der Regler runtergezogen würde. Wer dann nicht verharrte, schied aus.
Ich habe die Füße kaum vom Boden gelöst. Im Ernstfall stand es sich besser auf beiden Beinen.
Stopp!
Dem Schornsteinfeger rutschte der Zylinder. Raus!
Rotkäppchen kippelte auf dem linken Bein. Raus!
Der Diskjockey ließ sich von den anderen auf der Club-Couch bei der Auslese helfen.
Stille. Wir waren nur noch wenige, die in ihrer letzten Haltung verharrten. Ein paar Momente. Und eigentlich nur, um im Spiel zu bleiben. Mit irrem Herzklopfen.

Es wurde Stopp gesagt. Runtergeregelt. Verharren wir also.
Bald geht der Tanz wieder weiter.

Fingerfertigkeiten

Mit sieben Jahren schon haben Mirko und sein Kumpel Holz gehackt, damals, in den siebziger Jahren. Mirko legte die klobigen Kaventsmänner auf den Klotz, der Kumpel schlug die Axt in das Holz, und Mirko sammelte die Scheite zusammen.
Die Lust ließ irgendwann etwas nach, die Aufmerksamkeit auch.

Hundert Mal war ich in seinem Laden, aber ich bemerke jetzt erst, dass Mirko ein Finger fehlt.
„Ich kaschier‘ das immer ein bisschen“, sagt er und macht mit der Rechten eine lockere Faust, das genügt schon.
Außer mir sind gerade keine Kunden da. Also streckt er die Finger wieder. Welch eine riesige Hand! Aber statt eines Zeigefingers ist da ein kurzer Rest.
Im Krankenwagen noch habe Mirko seine Mutter getröstet. Erst als der Arzt ihm nach der Operation eingestand, dass die beiden betroffenen Finger-Glieder nicht mehr zu gebrauchen waren, packte ihn das Entsetzen.
Es war schlimm. Das ist es manchmal immer noch. Aber nur beim Handschlag.
Beim Wieder-Schreiben-Lernen gab er sich mehr Mühe als zuvor und beeindruckte die Lehrerin. Ein bisschen wurde er zum Helden.
Seine Mutter holte später einmal ein altes Foto hervor, auf dem Mirko – noch unversehrt – ein Glas Milch in der Rechten hält, und der Zeigefinger steht anscheinend nutzlos ab. „Als hätte der das schon geahnt, mein Junge.“
Mirko geht durch seinen Laden und lacht. Er braucht seine Hände. Und so wie sie sind, ist es gut.
Die zauberhaften Schalen, die er an seiner Töpferscheibe dreht, finden immer reißenden Absatz.