Buchpremiere in Schwerin

Im Rahmen der 25. Literaturtage fand am 16. Oktober 2020 in der Schweriner Stadtbibliothek eine Buchpremiere statt:
Interzonenjahre. Ein Ost-West-Roman
Musikalische Begleitung: Klaus Gebauer

 

Einmal ausgeholfen

Das Postauto hielt mitten auf der Straße. Ein brünetter Lockenkopf schob sich aus dem Fahrerfenster. „Steh ich im Weg? Ich mach mal auf.“
Lächelnd stellte sich die Postfrau neben die offene Fahrertür. „Ich bin heute die Aushilfe hier.“
Als würden sich alle Hausnummern gerade hinter riesigen Sonnenblumen verstecken, fragte sie nach der Nummer 16. Und zur Nummer 40 müsste sie auch noch. Aber die liege wohl hinter der Absperrung.
„Ich dreh mal wieder um.“
Das war gar nicht so einfach.
Dann fiel ihr die Nummer 16 wieder ein. Ein Paket. Es war sogar jemand zu Hause.
Der gelbe Kasten schaukelte im ersten Gang weiter. Nach hundert Metern, kurz vor der Kreuzung, fand sich eine Parklücke – rein da!
Arme Aushilfe.
Was sie wohl sonst bei der Post zu tun hatte?
Wenig später klingelte es. Da stand sie, außer Atem, verschwitzt und dennoch lächelnd. Unter dem Arm hielt sie ein Päckchen.
„Sie kriegen doch auch was!“

Lieblingswörter

MALHEUREUSEMENT. Das ist Ludwigs Lieblingswort. UNGLÜCKLICHERWEISE.
Er hat es nicht auf das Pech abgesehen, aber er spürt nun mal gerade diese Silben wie den ausgeleierten Schaltknüppel eines alten Renault in der rechten Hand, während er sie ausspricht. Jungs und Autos.
Zuzanna dagegen erweitert derzeit ihren deutschen Wortschatz und hat das „ch“ für sich entdeckt. Nicht etwa in „ach“ oder „Krach“, sondern – dabei artikuliert sie so behaglich wie irgend möglich – in BÜBCHEN und KANINCHEN. Seit in den Gärten das Gemüse reift, zählt auch MEERRETTICH zu ihren Lieblingswörtern.
Wenn sie aber EICHHÖRNCHEN flüstert, dann scheint sogleich etwas Buschig-Weiches die eigene Haut zu streifen. Wörter kann man eben auch fühlen.

Perseiden

In der großen Nacht der Sternschnuppen hatte ich keine Zeit. Also mussten die Wünsche warten.
Am Freitag jedoch blieb ich abends einfach in der Hängematte liegen. Zuerst waren da nur Jupiter und Saturn, aber nach und nach formten sich die Sternbilder. Ganz nah kreuzten Fledermäuse mein Blickfeld, als wären sie betrunken.
Plötzlich kam auch in den Sternenhimmel Bewegung. Ein Licht-Punkt war unterwegs. Ich sortierte eilig meine Wünsche und verfolgte den Pfad. Wie dumm – so langsam war doch keine Sternschnuppe!
Plötzlich sah ich überall winzige gleitende Pünktchen.
Wer flog denn heute noch? Und dann in der Nacht zum Sonnabend? Während ich mir die unbequeme Flugzeugsitzhaltung in der Economy Class ausmalte, flitzte ein matt strahlendes Etwas über Nachbars Tanne hinweg.
Darf man sich auch noch etwas wünschen, wenn die Schnuppe schon wieder verschwunden ist?
Klar. Am besten gleich alles auf einmal.

Rock and Roll

Jürgen ist um die achtzig. Ein alter Mann, dachte er manchmal, als es ohne Stock nicht mehr ging. Er sah sich ja selbst nicht! Aber Bärbel hielt ihm auch nie den Spiegel vor, die Gute.
Nun musste er sich gar dieses monströse Gefährt anschaffen. Wenn er früher in die Stadt gegangen war, dann Schritt für Schritt. Jetzt sollte er das Ding vor sich herschieben. Step by step … Da konnte er nur lachen! Damit käme er keine Treppe hoch und in den Linienbus weder rein noch raus. Keiner konnte nachfühlen, was er durchmachte. Na, Bärbel vielleicht. Die sagte, er würde sich dran gewöhnen.
Er wollte nichts verpassen, immer dabei sein, so wie früher.
Der Nahverkehr bot ein Rollator-Training an, Jürgen und Bärbel machten sich auf den Weg. Die Busfahrer sind immer alle nett, das hatte er nie anders erlebt.
Er sah den Bus stehen und es wärmte ihn schon durch. Als dann seine Rollator-Einstellungen als optimal eingeschätzt wurden, ein zweites Mal. Er war immer ein Technik-Freak. Sowas merkten die hier sofort.
Es gibt Einstiegstricks. Klar. Die hat er sogar vorher schon ein bisschen gekonnt. Mit Festhalten zwischendurch. Und gleich Bremse anziehen! Aber rückwärts raus? Wie das denn? Da sah er doch nichts?
Nee, aber er kam hinaus. Schritt für Schritt. Eigentlich ganz einfach.
Bärbel faltete derweil mit einer Fernbedienung einen E-Scooter auf Kofferraumgröße zusammen. Was für ein Spaß. Jürgen wollte auch mal drücken, aber nur aus Interesse. Er hat ja seinen Rollator.
Und er hat noch so viel Leben vor sich.

 

Aus der Werkstatt

HURENKINDER. Ich hatte sofort Mitleid mit ihnen. Rein menschlich schon, als ich jetzt mit ihnen zu tun bekommen sollte. Wusste ich doch nicht, was sie anrichten können und welch schlechten Eindruck sie machen!
Es soll nämlich auch etwas für‘s Auge sein – das Buch meine ich, genauer: die aufgeschlagene Doppelseite. Wenn da plötzlich eines rumlungert, dann kriegt der Setzer eins auf die Mütz‘!
Die erste Zeile auf einer neuen Seite wird nämlich zum Hurenkind, wenn sie gleichzeitig die letzte eines Absatzes ist.
Daran denkt man beim Schreiben natürlich nicht.
Falls aber die erste Zeile eines neuen Absatzes zufällig die letzte auf einer Seite ist, dann nennt man sie SCHUSTERJUNGE.
Vor dem Druck müssen alle Hurenkinder (die nicht wissen, wo sie herkommen) und alle Schusterjungen, (die nicht wissen, wo es hingeht), verjagt werden. Das hat nichts mit Moral zu tun, nur mit der Ehre des Setzers.

Nun bin ich ein Stück schlauer.

Im Sturm

Der Regen hatte den Strandsand durchgepeitscht. Was danach als Feinstes herumtrieb, pfefferte der Sturm auf meine Haut. Dazu das scharfe Licht und der rauschende Sound der Wellen.
Die Menschen waren noch nicht wieder da.
Plötzlich kam die Lust, den neuen stylischen Wurfring in den Wind zu säbeln. Boomerang-Würfe waren mit Frisbeescheiben schon immer ein Spaß, mit diesem schnittigen Spielzeug sollten sie zum Abenteuer werden!
Eine kleine Bewegung aus dem Handgelenk genügte. Der Ring schnellte hinauf, wurde kleiner, gewann noch einmal ruckartig an Höhe und kehrte lange nicht zurück. Schließlich stand er so weit über dem Strand, dass der Radius seines Niedergangs nicht mehr abzusehen war.
Ich schritt mal zur einen, mal zur anderen Seite, bis er dann doch wie ein fliegendes Messer an mir vorbeisauste, irgendwann an Tempo verlor und über den Sand schlingerte. Mir war klar, dass solch ein Retour einem Ahnungslosen den Kopf hätte kosten können.
Aber die Leute waren nach dem Regen immer noch nicht zurückgekommen.
Also durfte noch ein Wurf sein. Ganz locker nur.
Und wieder griff der Wind sich den Ring, machte ihn zum Geschoss und gab ihm aus Spaß einen seitlichen Stoß, so dass er über das Wasser segelte, eintauchte und für immer verschwand. Entsetzt starrte ich auf die Wellen.

Solche Ringe tauchen nicht wieder auf, wissen die Freaks im Internet.

Solarstrom-Lektion von Oma

Bei den Nachbarn wird wieder King-Domino gespielt. Ich sitze mittendrin, genieße die sonnige Abendstimmung am Wohnzimmertisch und erfasse allmählich meine strategischen Möglichkeiten. Ein bisschen Siedler-feeling kommt sogar auf. Die Kinder sind die Profis. Das Spiel wird immer spannender und ich – poch-poch-poch-poch – höre sogar mein Herz klopfen. Seltsam genug. Schlägt es doch sonst immer still vor sich hin! Und niemals in Ohr-Nähe … Es tickt richtig!
Als die ergatterten Punkte zusammengerechnet werden, suche ich mein Umfeld ab. Vielleicht ist das gar nicht mein Herzschlag?
Da – auf dem Fensterbrett schwingt ein stehendes Schaf klackend seine Hüften. Sowas kannte ich bisher nur von um sich schlagenden Topfpflanzen und winkenden Katzen. Nun ein Schaf. Mit dem Kopf wackelt es auch.
„Noch eine Runde?“, fragt die Mutter.
„Ja, aber die Sonne blendet“, sagt das jüngere Mädchen.
„Mach doch zu“, meint seine Schwester.
Raaaaaaaaatsch, ist die Gardine vorgezogen. Das Restlicht macht das Zimmer rötlich.
„Du fängst an“, sagt die Große, und ich ziehe drei Karten.
Jetzt weiß ich, wie ich’s angehen muss. Und ich will gewinnen! Herzklopfen habe ich nicht. Das Ticken ist auch nicht mehr zu hören.
Ja, das Schaf ist ganz ruhig. Es schüttelt nur noch ein bisschen den Kopf, als wollte es mit den Ohren wackeln.
„Es hat kein Licht“, sagt die Jüngere, als sie mein Erstaunen bemerkt. Sie zieht die Gardine wieder ein paar Zentimeter zurück. „Das reicht schon“, lacht sie dann, schüttelt rhythmisch den Kopf und deutet erklärend auf das tanzende Schäfchen: „Ist von Oma!“

Wilder Mohn

Das Lied vom wilden Mohn,
es war mir damals schon,
als in der Stadt ich blieb,
so seltsam lieb.

Drei Tage Übermut,
dann aber hielt die Glut
der Nacht nicht stand,
war ausgebrannt.

Es zeigte sich verschwommen,
was bald schon sollte kommen,
ganz zart und schlicht
im neuen Licht.

                                      ksh