Klingelzeichen

In unserer alten Dorfschule durften wir Kinder das Lehrerzimmer nicht betreten. Wenn es doch drängte, dort an die Tür zu klopfen, hatten wir vor der Schwelle stehenzubleiben. Denn dieses von kaltem Rauch durchzogene Zimmer mit richtigen Gardinen an den Fenstern war das Refugium des Lehrpersonals.
Das Wort Konferenz werde ich immer mit den abgewetzten ocker-gelben Sitzpolstern der hier aufgereihten Stühle verbinden. Hier wurde über Schülerschicksale entschieden. Und hier war die Schulklingel, ein Schalter, der direkt neben dem für die Deckenlampe angebracht war.
Wenn mitten im Unterricht ein krächzendes Kurzklingeln ertönte, hatte ein Lehrer beim Lichtanknipsen nicht hingeguckt.
Die Schulsekretärin kümmerte sich um die richtigen Klingelzeichen. Sie ertönten exakt auf die Minute und in immer derselben Länge. Manchmal verstolperte sich das Signal, gerade zum Ende der Hofpause. Dann hatte ein Schüler als kleine Belohnung drücken dürfen.
Einmal in meinen drei Jahren an dieser Schule durfte auch ich. Mein Herz raste. Ich musste den Arm noch strecken, um mit dem Zeigefinger in die Höhe der beiden Schalter zu gelangen. Und dann drückte ich, bis die Fingerkuppe ganz weiß wurde. In der Unterstufe rannten die Kinder noch, wenn es klingelte. Ich sah es durch die Gardinen. Was für ein Zeichen.
„Reicht jetzt!“, murmelte die Sekretärin.

Geräusche, nachts

Als wenn auf den Dachpfannen gekegelt würde.
Oder eine Mülltonne durch den Garten gerollt.
Ratterdi-ratterdi-ratterdi.
Das Herzklopfen hört sich schon genauso an.
Da ist doch jemand!
Stille – – –
beim Blick über die Reihenhaus-Höfe.
Ganz hinten hängt eine rot leuchtende Lichterkette
an der Hecke durch. Warum jetzt noch?

Schaumwaffelweiche Bettschwere.
Ratterdi-ratterdi-ratterdi.
Marder?
Die klingen doch nicht wie Mülltonnenräder.
Dann ist es ja gut. Vielleicht.
Der Puls hat sich schon beruhigt.

Ein Königreich für einen Hühnerstall

Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens zählt gnadenlos auf, was man zu gewissen Anlässen dringend bzw. auf gar keinen Fall tun sollte. Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ist besonders schicksalsträchtig.
(Bin ich etwa abergläubisch? War ich einst immerhin mutig genug, eine schwarze Katze ins Haus zu lassen …)
Nun wird offenbar, welche Kette von Unglücken mir schon hätte widerfahren können, nur weil ich zwischen Weihnachten und Neujahr das Notwendigste an Wäsche gereinigt und gar die Stube durchgesaugt habe. Das ist seit Jahrzehnten gutgegangen, vielleicht aber auch nur haarscharf. Wer weiß das schon?
Man könnte – andersherum – dem Schicksal ein wenig auf die Sprünge helfen. Folgendes soll jedoch wirklich nur an diesen Tagen gelten: Wem es gelingt, dreimal unbemerkt in den Hühnerstall hinein- und herauszukommen, dem ist ein glückliches Jahr bestimmt.
Ganz einfach. Also, bitteschön!

Benedictus

Der Wind bläst in die Fock, der Mastbaum schwingt rüber und neigt Gustavs Boot Benedictus ein wenig. Fließend nimmt es Fahrt auf und bremst auf wundersame Weise ab, als es die schwankende Reihe der anderen erreicht, die auf das Signal warten.
„Noch eine halbe Minute bis zum Start!“
Regattawetter.
„Noch fünfzehn Sekunden! Noch zehn! Neun! Acht! …“
Das Hupen ist über den ganzen See zu hören.
Die Bootskörper setzen sich in Bewegung, einer driftet gleich zur Seite und plant die Boje im großen Bogen zu nehmen.  Benedictus prescht ab durch die Mitte, Gustav rollen die Schweißperlen.
„Zieh durch! Die anderen müssen ausweichen!“, feuert sein Kumpel ihn an.
Das Joypad wie eine Brottasche vor dem Bauch, versucht Gustav Segel und Ruder so fernzusteuern, dass Benedictus den kürzesten Weg und die beste Zeit einfährt. Die Konkurrenz neben ihm kringelt, kreuzt, kraftmeiert.  Alles gestandene Männer.
Als die Hupe drei Mal über den See trompetet, ist das Rennen beendet und auch der Letzte durchs Ziel gekommen. Er hat sich gequält, konnte nicht schneller, denn bei ihm hängt Schlick am Ruder! Sein Lachen klingt bemüht.
Wenn früher im Jungs-Kinderzimmer die H0-Lok aus den Schienen sprang, war’s ja auch doof.

 

Schuhe

Einer 15-Jährigen stellen sich bei Familienritualen schnell die Nackenhaare auf, da kann sie gar nichts machen. Sie hofft selbst, dass das irgendwann vorbeigeht. Aber die mit übertriebenem Augenzwinkern vorgebrachte mütterliche Ermahnung, heute ausnahmsweise an das Schuheputzen zu denken, fühlt sich für sie nun mal so an wie die Erlaubnis, Teletubbies gucken zu dürfen.
Geht gar nicht!
Muss aber!
Die Schuhe haben zu glänzen. Es würde zwar in jedem Fall Schokolade geben, aber möglicherweise auch schlechte Stimmung am Frühstückstisch. Welche Botten sie vor die Zimmertür stellt, ist egal.
Püppchen Gerda ist vor vier Jahren noch komplett neu eingekleidet worden. Nie hat sie ihm jemals die Schnallenschühchen abgestreift. Es geht ruckzuck. Sie reibt mit dem Finger den Staub ab, platziert die Winzlinge vor der Türschwelle und kann den Nikolausmorgen kaum erwarten …

Doppelgriffe

Welcher kleine Geiger spielt schon gern Doppelgriffe – also jene Wagnisse, bei denen zwei Saiten zugleich angestrichen werden? Meist kann eines der aufgesetzten Fingerchen nicht richtig hören und wird vom Lehrer deshalb sanft zurechtgerückt. Ja, sanft, damit die Töne sauber klingen. Trotzdem scheint es dem Kind in den Knöcheln zu knacken. So fühlt es sich jedenfalls an.
Lehrer L. kennt das. Als er elf Jahre alt war, auf der Flucht, war ihm nur die Geige geblieben. Mutter und Geschwister hatte er im Gedränge auf dem Bahnhof verloren. Für ein paar Tage durfte er sich einer anderen Familie anschließen. Die hatte Freude daran, dass er trotz allem auf der Geige weiterspielte.
So einer hantiert auch doppelgriffig. Und er schreibt Jahrzehnte später für seine Geigenschüler ein Stück, in dem die Doppelgriffe Spaß machen und auch die Fingerchen das Hören lernen.

Affentänze

Flitzt ein Eichhörnchen an mir vorbei, bleibe ich stehen und staune – über die Spiralen, in denen es einen Stamm hinauf eilt und über die waghalsigen Sprünge, die ihm nichts ausmachen.
Nun hetzten vier Katta-Äffchen über meinen Weg. Eines tobte die Fahnenstange in einem Vorgarten hoch, flog von ganz oben hinüber auf eine Eiche und jagte mit den anderen so ausgelassen durch die Baumkronen, dass die Äste nicht wieder zur Ruhe kamen.
Wurden die nicht vermisst im Zoo?
Es war nicht weit.
Vermisst? Nein. Die Kattas hätten doch gerade Ausgang!
Ach so. Der sei ihnen gegönnt.
Aber wenn die Tiger Ausgang bekommen, möchte ich es vorher ganz gern wissen.

 

 

Krautfüße

In der Kantine gibt es Sauerkrautpfanne mit Kasselerwürfeln. Schön saftig, sagen manche.
Als G. nun vom Krautstampfen bei der Großmutter erzählt, kribbelt es mir in den Schuhen.
Das halbe Dorf traf sich auf der Diele. Die Bleche mit Hefekuchen gehörten immer dazu. Während einer der Männer die Kohlköpfe hobelte, schrubbte die Großmutter Kinderfüße. Salz stand bereit. Erst, wenn die Fußsohlen beim Stampfen ganze Arbeit geleistet hatten, kam die nächste Kraut-Schicht auf die Masse, Salz und immer so weiter. Zwischendurch war genügend Zeit für ein Stück Kuchen. Erst zum Schluss wurde das verdichtete Kraut in die Familien-Gärtöpfe umgefüllt, mit einem Kohlblatt gekrönt und dann vom Steingut-Deckel geschützt. In der Rinne musste in den nächsten Wochen immer ein wenig Wasser stehen. Solange noch Kuchen da war und etwas zu trinken, ging man nicht auseinander.
Heimelig war das – etwas fürs Leben.
(Ich aber weiß jetzt, dass es das Bittere, Gegorene, Getretene ist, das mich nachhaltig davon abhält, Sauerkraut von Herzen zu mögen).

Die Rettung im Verschweigen. Ein Interview mit der SVZ

Wie ein vierwöchiges Künstlerstipendium in Kaliningrad den neuen Roman der Schweriner Autorin Katrin SobothaHeidelk beflügelte

Ein Stipendium des Künstlerhauses Lukas in Ahrenshoop erlaubte es der Schweriner Autorin Katrin SobothaHeidelk unlängst, einen Monat lang in der russischen Stadt Kaliningrad an ihrem neuen Roman mit dem Arbeitstitel „Das Schweigen“ zu arbeiten. Holger Kankel sprach mit der Autorin.

Warum haben Sie sich für das Stipendium in Kaliningrad beworben?

Der Roman spielt im Deutschland der Nachkriegszeit, in Mecklenburg und Vorpommern, in Schwerin und Berlin. Beginnt aber in Königsberg. Ich konnte in Kaliningrad recherchieren, die Handlung des Romans setzt Weihnachten 1942 ein und führt im Epilog bis ins Deutschland des Jahres 2016. Vor der Reise habe ich über Kaliningrad nur auf der Basis von Recherchen geschrieben. Vor Ort konnte ich vieles mit eigenen Augen sehen, mit Leuten reden, in Archiven arbeiten. So hat Königsberg für mich eine ganz andere Dimension bekommen. Und ich konnte endlich einmal vier Wochen hintereinander ungestört schreiben und nicht wie sonst nur an meinem freien Nachmittag, abends oder im Urlaub.

Wollen Sie schon verraten, worum es in Ihrem Roman geht?

Obwohl die Geschichte im Grunde fiktiv ist, beruht sie auf den Erinnerungen einer älteren Bekannten von mir. Sie musste als Achtjährige mit ihrer Großmutter aus Königsberg fliehen, hat Flucht und das Nichtwillkommensein in Deutschland erlebt. Aber Großmutter, Mutter und Enkelin reden über das Vergangene nicht. Schweigen und Verdrängen sind in dieser Familie zur Überlebensstrategie geworden. Elsa, meine Heldin, schläft als 17-Jährige mit ihrer Mutter in einem Bett, merkt aber nicht, dass diese schwanger ist. Der Vater ist noch in Gefangenschaft. Das Kind, ihre Schwester also, wird zur Adoption freigegeben und nie erwähnt. Erst später taucht sie wieder auf.
Es geht auch um das Gefühl des Unsichtbarwerdens, das ein Leben lang an Elsa klebt. Auf der Flucht war es überlebenswichtig, sich zu verstecken und nicht gesehen zu werden, auch als unwillkommener Flüchtling sollte man besser nicht auffallen. Selbst Elsas erste Liebe musste geheim bleiben. Erst nach und nach lernt sie, wieder sichtbar zu werden.

Wie weit sind Sie mit dem Roman, gibt es schon einen Verlag?

Ich habe zwei Jahre an dem Roman geschrieben, Ende Dezember müsste ich fertig sein. Ich bin bereits mit Verlagen im Gespräch.

Was hat Ihnen an Kaliningrad, dem alten, ostpreußisch geprägten Königsberg, gefallen und was eher nicht?

Die Stadt ist anfangs sehr spröde, geprägt von ruinösen Plattenbauten aus der Sowjetzeit. Deutsches gibt es, bis auf das Grab Immanuel Kants, kaum noch.
Am schönsten waren die Begegnungen mit Kaliningradern. Die Zoodirektorin hat mir z. B. erzählt, dass viele Tiere im Krieg zu Bauern aufs Land gebracht wurden. Der Königsberger Tiergarten war früher einer der mondänsten Vergnügungsparks Europas. Am Ende des Krieges hatten von über 700 Tieren nur ein Damhirsch, ein Dachs, ein Esel und ein schwer verletztes Nilpferd überlebt. Im Roman nimmt eine der Nebenfiguren ein Zootier auf – ein Mähnenschaf.
Es gab Konzerte im Dom, in meiner Zeit dort fand auch ein viertägiges Dokfilmfestival statt. Ansonsten habe ich, wie gesagt, recherchiert und jeden Tag geschrieben.

 

Idylle am Sonntagvormittag

Hier weiß fast jede fast alles über fast jede(n).
Ohne Kopfhörer im Vorgarten pusselnd erfährt man noch ein wenig mehr.
Wer schon wieder schwanger ist zum Beispiel, jetzt noch. Und wer bald wegzieht. Gegenüber wird Laub geharkt, einen guten Meter über die Grundstücksgrenze hinaus, weil eine Hand die andere wasche.
Ganz weit weg – die Domglocken.
Plötzlich bremst der Nachbar sein Rennrad am Zaun, er lockert den Helm und schaut auf die Sport-Uhr: 31 Kilometer. Eine Stunde – null-acht. Naja.
Von rechts nähern sich Mutter und Kind. Das kleine Mädchen wird auf seinen ersten Inlineskatern vom Familienhund gezogen, der auf einem Auge blind ist.
Die Sonnenblumen blühen sich zu Ende.