G. G.

Im Opernchor, früher, war er immer sofort zu erkennen gewesen, sogar in Mönchskutte. Er hat in jeder Rolle alles gegeben, vielleicht noch einen Tick mehr.
Nun, mit neunzig, sitzt er im ersten Rang. Ein wenig gebeugt, doch nicht müde, erhebt er sich zur Begrüßung. Er kennt so viele.
Ob er das Oratorium von heute auch einmal mitgesungen hätte?
„Was denken Sie? In so einem langen Leben?“ Er winkt ab.
Und ob es ihm gefiele, dass dazu getanzt werde?
„Warum nicht, wenn doch alles so schön ist: Das Theater. Die Bühne. Der Vorhang.“

Am nächsten Tag steht er mit seinem Hund an der dicht befahrenen Straße. Wie so oft.
Er hält die Leine kurz und wartet.
Als die knappe Lücke endlich kommt, schleichen sie hinüber.

Ostpreußen, Spätherbst 1937

Der dreijährige Gerhard sollte ab jetzt in den Kindergarten gehen.
Er hatte keine Ahnung von Erzieherinnen und Ringelreihn.
Am ersten Tag empfing ihn ein einäugiger Kriegsveteran, der Hausmeister.
Er half gelegentlich aus. Und er hatte seine eigenen Methoden.
„Kinder, die nicht artig sind, müssen zu den Fledermäusen.“
Zauber-zauber, plötzlich hatte er eine in der Hand, ein nacktes, knochiges Tierlein mit Zähnen.
„Die sind immer hungrig und fressen kleine Kinder. Denn sie wollen einmal riesengroße Drachen werden!“
Gerhard setzte sich durch und ging nie wieder in einen Kindergarten.

NEU – in der Drogerie

„Das kannst du nicht kaufen“, flüstert die Kassiererin.
Sie ist ein wenig aus dem Takt geraten.
„Darf ich das denn so mitnehmen?“, fragt das kleine Mädchen.
„Das brauchen wir noch!“ Die junge Frau stützt sich am Gummipolster des Laufbandes ab.
„Aber wozu denn?“, will das Kind wissen.
„Zum Markieren der Ware.“
„Ich brauch das aber auch.“
„Möchtest du einen Luftballon?“
Das Mädchen schüttelt den Kopf.
„Ich nehm‘ das jetzt mit!“
Die Kassiererin schließt kurz die Augen und greift nach der Ware hinter dem nächsten Trennstab.
Da steckt das knallrote Plastikschild mit den drei Buchstaben schon im Namensfeld des Schulranzens: NEU.

Rotkäppchen für Mädchen ab 14, backstage

Die Puppenspielerin war zu einem Gastspiel in ihre alte Heimatstadt gekommen.
Drei Stunden brauchte sie für den Aufbau der winzigen Bühne, die kaum mehr war als ein aufrechtes Bett, das sich verwandeln ließ. Fünf Minuten vor Beginn des Zuschauer-Einlasses war sie fertig, setzte sich in das Innere und zog die Vorhänge zu. Waren alle Schnüre zugbereit für die schnellwachsenden Pilze im wildromantischen Wald? Lag die Decke,  unter der sich so gut munkeln ließ, in Griffweite?
Und alles andere auch?
Hochkonzentriert überdachte sie die Handgriffe, einen nach dem anderen.
Von außen glich die Bühne einem verhängten Schrank. Keine Falte bewegte sich.
Innen nahm sie die Entspannungshaltung ein, die sie schon im Schülertheater gelernt hatte.
Beine, Arme, Schultern spürten nur sich selbst. Und die Ohren hörten nichts. Eigentlich.
Aber nicht in dieser Stadt.
Muttchen war eingetroffen und klärte die Klassenkameradinnen von früher auf.  Ja, seit gestern wäre die Tochter schon da mit den ganzen Kisten für die Bühne. Und nein, die wären doch schon längst auseinander. Sie hätte das Stück schon gesehen. Ja,  sehr erotisch. Dann flüsterte Muttchen nur noch, und die Puppenspielerin unterschied die Mädchen am Klang ihres Gekichers. Sie versuchte, ihren Lachreiz zu veratmen. Unmerklich gerieten die Stoff-Falten in feine Schwingungen.

Der Bruch

Midnightblues. Der Pianist holt zu Hause den Tag noch einmal zurück,
das Gelächter am Fluss und die sanften Paddelschläge, die den Libellen
nichts anhaben konnten. Lichtreflexe perlten über die Wellen wie die feinen Arpeggien, die jetzt das Kerzenlicht erreichen, pianissimo, es ist Nacht.
Die Flamme bleibt stehen, wie unberührt, und verfremdet die entspannten Gesichter.
Eine von uns erhebt sich, eilt zur Tür, sie ist ja gleich wieder da.
Ein Reißen, Knacken, Splittern, ein Schock.
Ihre Hände, starr, vor den Augen.
Sekunden der Stille. Ein Blick. Es ist gut.
Gebrochen ist nur das Glas.

Das Gleichgewicht … oder fifty-fifty 😉 / zum 14. Mai 2018

„Alles gut“, so sagt man schlicht,
will man Heikles sanft umgehen,
das solide Gleichgewicht
bleibt in einer Unwucht stehen.
Es kippelt und gebärdet sich,
als wär’s ein Werkzeug fremder Mächte,
mit Mut und Willen lediglich
kriegt man es in die Waagerechte.
Das Heikle aber wird nicht weichen,
das Gleichgewicht bleibt stets fragil,
fifty-fifty steh’n die Zeichen
und Schatten schärfen das Profil.

ksh

Was den Kater nicht stört

Martha fährt heute, den Katzenkorb auf dem Schoß, mit dem Bus nach Hause. Das Katerchen schläft. Die Bahnschranken sind geschlossen.
Der Busfahrer brummelt: „Ach du Scheiße!“ Und dann nochmal: „Scheiße!“
Zwischen den Schranken steht ein Fahrzeug, das allzu wagemutig ein wenig zu spät noch hinübergewollt hat. Der Mann ist schon ausgestiegen und rennt schreiend am Bahndamm entlang.
Der Busfahrer schaut in den Rückspiegel, er will den Abstand vergößern. Es könnte Scherbenflug geben. Die Smartphones schnellen in die Höhe, auf den meisten Bildern werden nur Köpfe drauf sein, verwackelt.
Das Katerchen lässt sich nicht stören, Martha weiß das.
Der Regionalzug leitet eine Vollbremsung ein und kommt in Sichtweite zum Stehen. Der Mann und der Lokführer diskutieren. Dann trabt der Mann zu seinem Auto zurück, lässt es ganz nahe an die Schranken rollen, stellt es parallel und kriecht unter der Schranke hindurch.
Im Schritttempo schleicht der Zug vorbei. Hinter den Scheiben drängen sich die Fahrgäste, ein Schiff wäre in Schlagseite geraten.
Im Bus raunen sich die Leute zu: „Passt durch!“
Das Katerchen gähnt.

Lost Places, Beelitz-Heilstätten

Fotosession. Ellen hatte sich die Tracht einer Krankenschwester aus dem Theaterfundus ausgeliehen. Der gestärkte Kragen, hochgeknöpft und rein, kontrastierte mit ihrem lasziven Lächeln. Sie stützte sich auf das verrostete Krankenbett-Gestänge, über dem die Reste einer OP-Lampe aus Vorkriegszeiten baumelten.
Ellen sah direkt in die Linse, veränderte im Takt der Auslösegeräusche minimal ihre Position, nur ihren Blick nicht.
Der Fotograf setzte das Licht neu und sortierte mit dem Fuß den Müll, der auch jetzt nicht in den Griff zu kriegen war, seit in der bewachten Klinik-Ruine nur noch Fotofreaks unterwegs waren.
Irgendwann sagte er: „Okay.“
Ellen schälte sich aus der Schwesterntracht und schlüpfte in Jeans und Pullover.
Die Immobilie sollte verkauft werden. Wenn sich diese Räume in Wohnungen und Ateliers verwandelten, würde von Urgroßvaters Krankenzimmer keine Spur mehr bleiben. Großmutter hatte ihr gezeigt, wo sein Bett gestanden hatte, als er sich 1940 hier die Seele aus dem Hals hustete.
Ellen blieb an einem Türrahmen stehen. Die Tapeten waren in ganzen Bahnen von den Wänden gerutscht. Das glaslose Fensterkreuz fand sie im Schutt auf dem Boden.
Jedes Mal war das Zimmer einen Schritt weitergekommen im Verfall.
Sie knipste es mit ihrem Smartphone und überlegte, ob sie sich heute ein Stück Tapete mitnehmen  sollte.

Lauben-Geheimnis

Für die Lampe an der Laube muss ein Kabel quer über den Hof verlegt werden.
Stechen, heben, schütten, stechen, heben, schütten.  Die Rinne wächst in Richtung Laube, schmal und lang. Der Kabelspaten hat nur ein fußbreites Blatt – selbstgebaut vom Urgroßvater, dem Mechaniker in der Familie, er starb kurz nach dem Krieg.
„Gleich bis ran an die Laube“, ruft die Großmutter.
Am Fundament geht der Stich nicht mehr in die Tiefe. Es stoppt. Hart. Nicht steinhart, eher dumpf und hölzern.
„Da ist was!“, sagt der Enkel.
Die Großmutter erstarrt.
„Und ich dachte, die Russen hätten das Silber mitgenommen!“
Der Enkel muss den großen Spaten holen,  die Schippe auch. Eine mit Beschlägen bewährte Kiste kommt zutage,  „Petroleum“ steht drauf.
Die Großmutter setzt sich.  Sie weiß, wie man Silber blank kriegt: mit Alufolie und Salz.
Als sie den Deckel aufgeklappt haben, finden sie in fleckige Lappen gewickelte Kostbarkeiten: Sägeblätter, Schrauben, Muttern und kleine Handbohrer. Und Nägel, massenhaft! Urgroßvaters Schätze, in Öl gehalten für Friedenszeiten.

 

Brennweiten, alltags

Mit dem Teleobjektiv lässt sich der Morgennebel auf dem See bis vor die Füße ziehen. Ein Blässhuhn fiept schrill, als wollte es den Graureiher warnen. Jeden Morgen stand er auf dem Totholz in Ufernähe, scharf und dunkel im Profil wie in einem Scherenschnitt. Ich sah schon immer das Foto. Heute sehe ich den Reiher nicht.
Ein Fotograf würde sich Zeit nehmen.
Ich verstaue die Kameratasche wieder im Fahrradkorb.
Gleich beginnt die Schicht.
Der Seitenständer knallt in die Waagerechte, Äste knacken beim Anfahren und lösen Hektik im Gebüsch aus. Ein Rehbock kreuzt meinen Weg – so nah, dass mein Teleobjektiv ihn glatt umgeschubst hätte.
Hätte! Hätte! …
… Fahrradkette!
(Ach ja, die braucht Öl, wie immer).