Aus dem Fluchtgepäck

Winter fünfundvierzig in Ostpreußen. Frau Kurz musste eilig ein paar Sachen packen, entscheiden, was sie wohl brauchen würde in der Fremde.
Was sollte nur mit dem Bild geschehen?
Sie konnte es nicht zurücklassen.
Einen Moment lang wird sie gezögert haben, bis sie zum Brotmesser griff und den gütigen Gefährten aus dem Rahmen schnitt.
Das Stück Leinwand war zu groß für ihre Gepäckstücke. Also musste sie es vorsichtig falten, wobei das Knirschen beim Bröckeln der Farbe ihrem Gewissen heftig zugesetzt haben wird. Manchmal tut man Dinge, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Frau Kurz wird gehofft haben, dass das hübsche Gesicht verschont blieb.
Das Bild lag zwischen den alten Zeitungen, jahrzehntelang.
Wie hätte sie es auch wieder aufhängen sollen?

Weiße Pfeffernüsse

Neulich hielt ich das zerfledderte, handgeschriebene Rezeptbüchlein meiner Urgroßmutter Amanda in den Händen. Unter Stock- und Fettflecken ist noch erkennbar, wie fein sie einst die Feder geführt hatte.
Weiße Pfeffernüsse.  In Sütterlin. Sauber unterstrichen. Wer schreibt noch so fürs Auge?
Schon sah ich ein Stillleben-Foto vor mir:  das Rezept auf rotkarierter Monogramm-Tischdecke mit drapierten Backzutaten – Nelken, Muskatnuss und einem Ei im Mehlhäufchen. Die Ecke eines Holzbretts.  So sollte meine Weihnachtskarte in diesem Jahr aussehen.
Das Licht stand günstig, die Szenerie war schnell gebaut, nur das Ei rollte immer wieder weg.  Nie war alles gleichmäßig scharf, doch eines der Fotos gefiel mir.
Amanda fand also Eingang in meine Dezemberkorrespondenzen, jedesmal verriet ich die Herkunft des Rezepts.
Die erste Antwort kam von einem Freund aus Kaliningrad. Das Rezept sei nicht vollständig lesbar. Ob ich es für ihn einscannen würde?
Er kann  die Schrift entziffern und will die Weißen Pfeffernüsse sogar nachbacken!
Und ich?

*   *   *
… hatte das eigentlich auch längst vorgehabt.

Interzonenjahre. Achte (und letzte) Leseprobe

Schwerin, 1952

„Deine Mutter möchte ich sprechen.“
„Das ist noch nicht möglich. Sie ist krank.“ Das letzte Wort betonte sie
etwas, damit er es nicht erneut in Zweifel zog. Was wusste er denn
schon?
Sie war sich nicht sicher.
Höflich fragte sie nach seinem Namen.
Er käme vom Amt, hieße Soundso und wollte eigentlich nur das
Formular ausgefüllt haben für die Akten.
„Lassen Sie es hier, ich gebe es Mutter, wenn es ihr bessergeht.“
„Ein Wochenbett kann Monate dauern, so viel Zeit haben wir nicht.“
Elsa spürte einen fiebrigen Schauer imganzen Körper und vermutete
einen Moment sich verhört zu haben. Jedes Nachfragen würde sie
bloßstellen, doch sie sah das triumphierende Flackern im Blick ihres
Gegenübers und dessen Freude daran, sie überrascht zu haben mit
etwas Unaussprechlichem. Elsa fühlte sich so ahnungslos und nackt
wie lange nicht.

Aus dem achten Kapitel

Interzonenjahre. Siebente Leseprobe

Pasewalk, 1948

Auf dem Hof kitzelte es Elsa im Bauch vor Aufregung, gleichzeitig
fühlte sie sich, als hätte sie Großmutter, deren Blick durch das Küchenfenster
sich tief in ihren Rücken bohrte, verraten.
Vorsichtig öffnete der Neulehrer den Füller, es knackte leise, der Tintenkörper
war eingetrocknet. Er zog die Stirn kraus, als er kurz seine
Nase an das Kopfstück gehalten hatte.
„Tote Vögel lagen da auch, wo der her ist“, flüsterte Elsa.
„Die liegen immer neben solchen Kostbarkeiten“, antwortete der Lehrer.
„Wenn du in meiner Klasse wärst, müsstest du mir das jetzt alles
erzählen, aber du bist ja nicht einmal an meiner Schule!“
Ein Glück! Sie würde sich ständig beobachtet und dadurch noch
beengter vorkommen!
Er pustete durch das Kopfstück, um die winzigen Bröckchen zu lösen,
die vielleicht denWeg versperrten, aber es saß alles fest.
„Mach mal die Schüssel voll!“
Elsa griff den Schwingel und nach dem vierten und fünften Pumpen
füllte sich die Schüssel. Der Lehrer legte alle eingetrockneten Teile in
das Wasser.
„Das ist ein Füller fürs Leben, Elsa. So einen habe ich nie gehabt.
Kann schon sein, dass der ein Schwein wert ist, wenn er wieder funktioniert.“

Aus dem siebenten Kapitel

Interzonenjahre. Sechste Leseprobe

Lohne, 1948

„Ein Notfall, Herr Doktor, meine Schwester!“ Hanni fluppten die Tränen aus den Augenwinkeln.
„Wieder die Luft?“, fragte er. Kannte er doch Gigi!
„Sie kriegt keine mehr. Und sie spricht von Soldaten.“
Der Doktor stöhnte, ließ sie noch so lange an der Treppe warten, bis
er den Arztkoffer geholt hatte, und sagte: „Lauf, Kind!“
Lieber Herr und Vater, du bist so gütig.
Hanni wusste, jetzt würde es Gigi gleich besser gehen.Wenn sie doch
erst dort waren! Wie zwei Landstreicher tobten sie durch den Schnee,
der Doktor kriegte auch kaum Luft. Er musste noch den schweren
Koffer tragen mit den Spritzen und was er dort alles drin hatte.
Die Hoftür knarrte, Howard schoss aus der Hütte. Still, Howard, der
Doktor ist da. Hanni rannte voraus, hielt dem Besucher die Tür auf
und stoppte an Gigis Bett.
Gigi schlief. So entspannt hatte sie lange nicht ausgesehen. Und so
schön. Mama saß am Fußende und konnte den Blick nicht von ihr
wenden. Sie schien nicht zu bemerken, dass der Doktor gekommen
war. Der verharrte an der Tür und hielt seine Tasche mit beiden Händen
fest.

Aus dem sechsten Kapitel

Interzonenjahre. Fünfte Leseprobe

Lohne, Herbst 1947

„Sind die in der Fabrik zu dir auch so gemein, Mama?“, fragte Hanni
abends am Tisch, als Mama gerade ihre Jacke auszog. Noch nie
hatte Mama etwas von der Arbeit erzählt, nur wie das ging mit dem
Korkenstanzen.
„Sind das denn die Mädchen in der Schule?“, fragte Mama leise zurück.
Gigi kam ihr zuvor: „Da musst du dir nichts draus machen. Mit
denen gibst du dich gar nicht ab.“
„Jessesmaaria, so einfach ist das nicht!“ Hanni fühlte sich nicht verstanden.
„Doch, so einfach ist das. Punkt!“ Gigi ahmte Hannis Tonfall nach.
„Ich hör da nicht hin, wenn solche was sagen“, meinte Mama schlicht.
„Aber das tut doch weh!“ Hanni verstand nicht, wie sie ihre Ohren
verschließen sollte. Außerdem sagten die ja nicht nur was, sie machten
auch keinen Platz auf der Schulbank!
„Irgendwann tut das nicht mehr weh, Hanni“, tröstete Mama.
„Schweig einfach drüber weg. Das vergeht mit der Zeit.“

Aus dem fünften Kapitel

Interzonenjahre. Vierte Leseprobe

Lohne, Sommer 1947

[…] „Hier, die habe ich geschenkt bekommen“, flüsterte Gigi, öffnete den
Holzdeckel eines winzigen Emaille-Kästchens und hielt Hanni ein
Stück Seife unter die Nase, das noch etwas feucht war.
Hanni atmete ganz tief ein. Blumen. Wiese. Kräuter.
„Von wem hast du die?“
Gigi hob die Augenbrauen und schmunzelte. Jetzt wirkte sie so viel
älter als Hanni. Vielleicht aber auch nur, weil sie so blass und schmal
und dabei so groß geworden war.
„Von den Engländern. Schokolade auch. Die ist nur zum Tauschen,
Hanni! Aber die Seife“, Gigi schluckte kurz, „brauchen wir selbst.“
„Ja, zum Händewaschen“, sagte Hanni und musste lachen.
Gigi streckte sich und schüttelte ernst den Kopf. „Seife macht schön,
Hanni. Das verstehst du noch nicht.“
Erst als der Holzdeckel zuploppte, spürte Hanni den leichten Stich.
Gigi musste sich wahnsinnig erwachsen fühlen.
„Ich verstehe das längst“, sagte sie tapfer. „Und ich brauche das
auch.“ […]

Aus dem vierten Kapitel

Interzonenjahre. Dritte Leseprobe

An der Elbe, 1945

[…] War Elsa aus einem Pullover herausgewachsen, hatte Mutter ihn manchmal Tante Anni gegeben, damit sie etwas Neues daraus strickte. Der Wollfaden wurde mit der Zeit härter und strippiger, aber für die Großtante war das Räufeln und Stricken immer wie Sport gewesen. Oft hatte sie eine ihrer Stuhllehnen mit alter Wolle umwickelt, damit die sich beim Trocknen dehnte. Dann erst hatte sie sie wieder aufgewickelt und dabei das Knäuel geschickt hochgehalten, so dass der Faden den aufgerollten Metern einfach hinterherrannte. Früher hatte Elsa die Großtante gern angefeuert …  schneller, schneller! Dann sah es so aus, als würde der Stuhl nur aus Garn bestehen und sich langsam selbst auflösen. Elsa brauchte nur zu blinzeln, um dabei solche komischen Szenen zu sehen. Irgendwann ließ sich die Großtante nicht mehr antreiben, weil sie kein Gaul wäre!
„Geh doch spielen“, sagte Tante Anni am Fenster.
„Ich spiel ja schon“, antwortete Elsa. […]

Aus dem dritten Kapitel

Interzonenjahre. Zweite Leseprobe

Unterwegs, 1945

[…] „Darf ich mal?“
Elsa nickte irritiert und überließ der Anderen ihre Hände – kalt, rauh und schmutzig. Vielleicht sollte sie etwas abgelenkt werden. Wenn die Frau die Kraft dazu hatte, sollte es Elsa recht sein.
Noch nie hatte ihr jemand die Hände massiert, jeden Finger, jedes Knöchelchen und sogar die Kuppen. Erstaunt ließ Elsa locker. Die kleinen Wülste, an denen sich die Lebenslinien auf dem Handteller entlang zogen, schienen zu reagieren, und Elsa kroch dichter an die junge Frau heran.
„Kannst du aus der Hand lesen?“
Die Frau schüttelte den Kopf.
„Wer kann das schon? Also so, dass es auch stimmt?“ Sie lachte. „Aber es gibt so viel Leben in den Händen und wenn du hier das Daumen-Dreieck ein bisschen knetest, dann tut das immer gut.“
Sogar Großmutter fingerte sich ihre Hände zurecht und suchte die Stelle.
Anni jedoch griff nach der Kerze, deren Messinghalter Elsa aus der Küche kannte, und flüsterte:
„Wir müssen das Licht löschen.“ […]

Aus dem zweiten Kapitel