Interzonenjahre. Zweite Leseprobe

Unterwegs, 1945

[…] „Darf ich mal?“
Elsa nickte irritiert und überließ der Anderen ihre Hände – kalt, rauh und schmutzig. Vielleicht sollte sie etwas abgelenkt werden. Wenn die Frau die Kraft dazu hatte, sollte es Elsa recht sein.
Noch nie hatte ihr jemand die Hände massiert, jeden Finger, jedes Knöchelchen und sogar die Kuppen. Erstaunt ließ Elsa locker. Die kleinen Wülste, an denen sich die Lebenslinien auf dem Handteller entlang zogen, schienen zu reagieren, und Elsa kroch dichter an die junge Frau heran.
„Kannst du aus der Hand lesen?“
Die Frau schüttelte den Kopf.
„Wer kann das schon? Also so, dass es auch stimmt?“ Sie lachte. „Aber es gibt so viel Leben in den Händen und wenn du hier das Daumen-Dreieck ein bisschen knetest, dann tut das immer gut.“
Sogar Großmutter fingerte sich ihre Hände zurecht und suchte die Stelle.
Anni jedoch griff nach der Kerze, deren Messinghalter Elsa aus der Küche kannte, und flüsterte:
„Wir müssen das Licht löschen.“ […]

Aus dem zweiten Kapitel

Interzonenjahre. Erste Leseprobe

Königsberg, 1944

[…] Wenn Dieter kam, durfte er die alten Schuhe seines Vaters anbehalten, solange Elsa mit ihm in der Küche blieb. Er roch seine eigenen Füße nicht, aber Elsa konnte beim Einatmen das Bittersaure nicht wegfiltern. Vielleicht wurden Dieters Socken im Winter nicht gewaschen, weil er kein zweites Paar hatte. Großmutter holte das Bonbon-Glas aus dem Wohnzimmer. Mutters Laden hatte eine kleine Lieferung bekommen aus Borntuchen. Da gab es eine Frau, die Bonbons aus Rübensaft kochte. Früher, als fast noch Frieden gewesen war, hatte der kleine Dieter einmal alle Süßigkeiten weggenascht, die er bei Elsa gefunden hatte.
„Die müssen wir wegschließen, wenn der Bursche mal wiederkommt“, hatte Großmutter damals zu ihrer Tochter gesagt. Jetzt aber hatte sie das Glas extra auf den Tisch gestellt.
Dieter schloss beim Lutschen die Augen. „Rübe“, sagte er mit Kennermiene, „und Wiesenkräuter“.
Elsa schob sich auch einen Bonbon in den Mund, obwohl sie sich nichts aus Süßigkeiten machte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, brauchte sie gar nichts essen. Sie hatte nie Hunger. Widerwillig kaute sie, was Großmutter für sie zusammenstellte. […]

(Aus dem ersten Kapitel)

Die Kraft des Rituals

Zai An geht zurück nach China. Sie hat es sich reiflich überlegt und verschenkt ihre Bücher und Teeschalen.
Es gibt kein Abschiedsfest. Doch Stunden vor ihrer Abreise lädt sie die Freunde in den Park vor dem Institut ein. Zum Jīngāng gōng.
Dafür lehnt sie eine alte chinesische Musikbox, die mit ihren wenigen Knöpfen wunderbar einfach zu bedienen ist und ausschließlich buddhistische Klänge gespeichert hat, an die Platane.
Zai An macht sich zur sanften Melodie sehr gerade und streckt ihre schmalen Schultern. Die Freunde, im Kreis, tun es ihr gleich.  Sie schwingen ihre Arme weit und halten während einer Drehung inne, wie es einst gelehrt wurde.
Bei jeder Übung scheinen kleine Impulse entferntere Winkel des Körpers zu erreichen.
Das Ritual nimmt allem die Schwere.
Für Zai An beginnt so jeder Morgen. Für manche ihrer Freunde hier auch.
Das bleibt – selbst, wenn es kein Wiedersehen geben wird.

Einmal ausgeholfen

Das Postauto hielt mitten auf der Straße. Ein brünetter Lockenkopf schob sich aus dem Fahrerfenster. „Steh ich im Weg? Ich mach mal auf.“
Lächelnd stellte sich die Postfrau neben die offene Fahrertür. „Ich bin heute die Aushilfe hier.“
Als würden sich alle Hausnummern gerade hinter riesigen Sonnenblumen verstecken, fragte sie nach der Nummer 16. Und zur Nummer 40 müsste sie auch noch. Aber die liege wohl hinter der Absperrung.
„Ich dreh mal wieder um.“
Das war gar nicht so einfach.
Dann fiel ihr die Nummer 16 wieder ein. Ein Paket. Es war sogar jemand zu Hause.
Der gelbe Kasten schaukelte im ersten Gang weiter. Nach hundert Metern, kurz vor der Kreuzung, fand sich eine Parklücke – rein da!
Arme Aushilfe.
Was sie wohl sonst bei der Post zu tun hatte?
Wenig später klingelte es. Da stand sie, außer Atem, verschwitzt und dennoch lächelnd. Unter dem Arm hielt sie ein Päckchen.
„Sie kriegen doch auch was!“

Lieblingswörter

MALHEUREUSEMENT. Das ist Ludwigs Lieblingswort. UNGLÜCKLICHERWEISE.
Er hat es nicht auf das Pech abgesehen, aber er spürt nun mal gerade diese Silben wie den ausgeleierten Schaltknüppel eines alten Renault in der rechten Hand, während er sie ausspricht. Jungs und Autos.
Zuzanna dagegen erweitert derzeit ihren deutschen Wortschatz und hat das „ch“ für sich entdeckt. Nicht etwa in „ach“ oder „Krach“, sondern – dabei artikuliert sie so behaglich wie irgend möglich – in BÜBCHEN und KANINCHEN. Seit in den Gärten das Gemüse reift, zählt auch MEERRETTICH zu ihren Lieblingswörtern.
Wenn sie aber EICHHÖRNCHEN flüstert, dann scheint sogleich etwas Buschig-Weiches die eigene Haut zu streifen. Wörter kann man eben auch fühlen.

Perseiden

In der großen Nacht der Sternschnuppen hatte ich keine Zeit. Also mussten die Wünsche warten.
Am Freitag jedoch blieb ich abends einfach in der Hängematte liegen. Zuerst waren da nur Jupiter und Saturn, aber nach und nach formten sich die Sternbilder. Ganz nah kreuzten Fledermäuse mein Blickfeld, als wären sie betrunken.
Plötzlich kam auch in den Sternenhimmel Bewegung. Ein Licht-Punkt war unterwegs. Ich sortierte eilig meine Wünsche und verfolgte den Pfad. Wie dumm – so langsam war doch keine Sternschnuppe!
Plötzlich sah ich überall winzige gleitende Pünktchen.
Wer flog denn heute noch? Und dann in der Nacht zum Sonnabend? Während ich mir die unbequeme Flugzeugsitzhaltung in der Economy Class ausmalte, flitzte ein matt strahlendes Etwas über Nachbars Tanne hinweg.
Darf man sich auch noch etwas wünschen, wenn die Schnuppe schon wieder verschwunden ist?
Klar. Am besten gleich alles auf einmal.

Rock and Roll

Jürgen ist um die achtzig. Ein alter Mann, dachte er manchmal, als es ohne Stock nicht mehr ging. Er sah sich ja selbst nicht! Aber Bärbel hielt ihm auch nie den Spiegel vor, die Gute.
Nun musste er sich gar dieses monströse Gefährt anschaffen. Wenn er früher in die Stadt gegangen war, dann Schritt für Schritt. Jetzt sollte er das Ding vor sich herschieben. Step by step … Da konnte er nur lachen! Damit käme er keine Treppe hoch und in den Linienbus weder rein noch raus. Keiner konnte nachfühlen, was er durchmachte. Na, Bärbel vielleicht. Die sagte, er würde sich dran gewöhnen.
Er wollte nichts verpassen, immer dabei sein, so wie früher.
Der Nahverkehr bot ein Rollator-Training an, Jürgen und Bärbel machten sich auf den Weg. Die Busfahrer sind immer alle nett, das hatte er nie anders erlebt.
Er sah den Bus stehen und es wärmte ihn schon durch. Als dann seine Rollator-Einstellungen als optimal eingeschätzt wurden, ein zweites Mal. Er war immer ein Technik-Freak. Sowas merkten die hier sofort.
Es gibt Einstiegstricks. Klar. Die hat er sogar vorher schon ein bisschen gekonnt. Mit Festhalten zwischendurch. Und gleich Bremse anziehen! Aber rückwärts raus? Wie das denn? Da sah er doch nichts?
Nee, aber er kam hinaus. Schritt für Schritt. Eigentlich ganz einfach.
Bärbel faltete derweil mit einer Fernbedienung einen E-Scooter auf Kofferraumgröße zusammen. Was für ein Spaß. Jürgen wollte auch mal drücken, aber nur aus Interesse. Er hat ja seinen Rollator.
Und er hat noch so viel Leben vor sich.

 

Aus der Werkstatt

HURENKINDER. Ich hatte sofort Mitleid mit ihnen. Rein menschlich schon, als ich jetzt mit ihnen zu tun bekommen sollte. Wusste ich doch nicht, was sie anrichten können und welch schlechten Eindruck sie machen!
Es soll nämlich auch etwas für‘s Auge sein – das Buch meine ich, genauer: die aufgeschlagene Doppelseite. Wenn da plötzlich eines rumlungert, dann kriegt der Setzer eins auf die Mütz‘!
Die erste Zeile auf einer neuen Seite wird nämlich zum Hurenkind, wenn sie gleichzeitig die letzte eines Absatzes ist.
Daran denkt man beim Schreiben natürlich nicht.
Falls aber die erste Zeile eines neuen Absatzes zufällig die letzte auf einer Seite ist, dann nennt man sie SCHUSTERJUNGE.
Vor dem Druck müssen alle Hurenkinder (die nicht wissen, wo sie herkommen) und alle Schusterjungen, (die nicht wissen, wo es hingeht), verjagt werden. Das hat nichts mit Moral zu tun, nur mit der Ehre des Setzers.

Nun bin ich ein Stück schlauer.

Im Sturm

Der Regen hatte den Strandsand durchgepeitscht. Was danach als Feinstes herumtrieb, pfefferte der Sturm auf meine Haut. Dazu das scharfe Licht und der rauschende Sound der Wellen.
Die Menschen waren noch nicht wieder da.
Plötzlich kam die Lust, den neuen stylischen Wurfring in den Wind zu säbeln. Boomerang-Würfe waren mit Frisbeescheiben schon immer ein Spaß, mit diesem schnittigen Spielzeug sollten sie zum Abenteuer werden!
Eine kleine Bewegung aus dem Handgelenk genügte. Der Ring schnellte hinauf, wurde kleiner, gewann noch einmal ruckartig an Höhe und kehrte lange nicht zurück. Schließlich stand er so weit über dem Strand, dass der Radius seines Niedergangs nicht mehr abzusehen war.
Ich schritt mal zur einen, mal zur anderen Seite, bis er dann doch wie ein fliegendes Messer an mir vorbeisauste, irgendwann an Tempo verlor und über den Sand schlingerte. Mir war klar, dass solch ein Retour einem Ahnungslosen den Kopf hätte kosten können.
Aber die Leute waren nach dem Regen immer noch nicht zurückgekommen.
Also durfte noch ein Wurf sein. Ganz locker nur.
Und wieder griff der Wind sich den Ring, machte ihn zum Geschoss und gab ihm aus Spaß einen seitlichen Stoß, so dass er über das Wasser segelte, eintauchte und für immer verschwand. Entsetzt starrte ich auf die Wellen.

Solche Ringe tauchen nicht wieder auf, wissen die Freaks im Internet.