Die anderen Kinder konnten das alle. Wir waren neu an der Schule und hatten es nie gelernt.
Anlaufen – Abstützen – Abspringen!
Hinter dem Bock lag eine Matte.
Das sah so leicht aus. Ich aber guckte lieber zu, als dass ich mich hinüberbemühte. Meiner Schwester ging es ähnlich.
Irgendwann gab es eine Leistungskontrolle.
Ich rannte dem vierbeinigen Braunen entgegen, trat auf das Sprungbrett und hoffte auf ein Wunder.
Immerhin konnte ich den Kopfsprung. Sogar vom Ein-Meter-Brett! Vielleicht segelte ich deshalb bäuchlings über das Leder, knickte ab und purzelte auf die Matte. Hauptsache, ich war angekommen.
Dann war meine Schwester an der Reihe. Sie nahm das Vieh fest ins Visier, gab Gas, erreichte den Bock, setzte die Hände auf und sprang mit der Wucht einer entfesselten Zehnjährigen in andere Sphären. Wie ein Geschoss flog sie ihre Bahn, hoch über dem Leder und ein Stück über die Matte hinaus.
Seitdem galt bei uns: Der Wille macht’s!
Der Silvesterkarpfen
Sie: Ich hätte früher nie gedacht, dass ich mal den Kopf essen würde. Aber seit Oma nicht mehr ist …
Er: Das sagst du jedes Jahr.
Sie: Wo hat so ein Karpfen nur die vielen Gräten her?
Er: Das ist evolutionsbiologisch …
Sie: Weißt du noch, was der Rainer erzählt hat?
Er: Dass er eine Gräte im Hals hatte?
Sie: Und was für eine! Die musste ihm doch rausgeschnitten werden!
Er: Schlimm. Auch das Warten in der Notaufnahme!
Sie: Sowas lieber nicht.
Er: Geb’s Gott!
Sie: Guck! Da ist das Knöchelchen fürs Portmonee.
Er: Dann musst du die alten alle mal aussortieren.
Sie: Damit das Geld nie ausgeht. Prost!
Er: Prost Neujahr!
Wartezeit
Ein Positiver in der Nähe
genügt
für sieben Tage Warte-Zwang
in quälendem Abstand.
Sieben Tage, in denen
eine kleine Welt erstarrt,
weil behutsames Miteinander-Sein
gerade jetzt das Wichtigste gewesen wäre.
Aber so lehrt es die Vernunft:
Es hätte schlimmer kommen können.
Frohe Weihnachten!
Vermächtnis
Verliebt.
Verlobt.
Verheiratet.
Ein Sohn.
Vermasselt.
Geschieden.
Verschanzt.
Fast versauert.
Neu verliebt.
Vergnügt
verschmolzen.
Verplaudert.
Verschätzt im
verminten Gelände.
Verglüht, irgendwann.
Verblieben – der Sohn:
Verliebt …
Karin (1939-2021). Ein Nachruf
Wie gut, dass du dich immer erinnern konntest. Und dass es dir eine Freude war zu erzählen. Manchmal fürchtete ich gar, zu viel zu fragen. Oder zu heikel. Doch dann hast du schelmisch gelacht, klare Worte gesucht und mit tiefer Stimme jeder Silbe einen Akzent gegeben. Es wurde dir nicht über.
Das ganze Leben konnte wiederauferstehen, auch das alte Labor. Lebensmittelkontrolle im Bezirkshygieneinstitut. Was habt ihr da nicht alles auf den Tisch bekommen! Kleine Happen, winzige Proben, Löffelchen voll mit irgendwas und Getränke natürlich. Sehen, riechen, schmecken und geschickt hantieren mit dem siebenten Sinn. Wie gut du gerade das gekonnt hast! Mit allen Wassern warst du gewaschen.
Und der Rauch? Der hat sich schließlich gelegt. Er fehlte dir dann nicht einmal mehr.
Wie stark, habe ich gedacht. Und es auch gesagt.
Vieles jedoch brauchte gar keine Worte.
Das Wesentliche
Der Croy-Teppich. Er wird an einer Wand hinter Glas präsentiert und zählt zu den Highlights des Pommerschen Landesmuseums. Das Licht im Saal ist so weit gedimmt, dass die Szenen zunächst kaum zu erkennen sind. Doch irgendwann gewöhnt sich das Auge und geht auf Entdeckungsreise. Im nächsten Raum sind die Raffinessen der Teppich-Rückseite durch Guck-Löchlein mittels einer cleveren Lupentechnik zu sehen, hell und deutlich. Wieder zurück im verdunkelten Saal lockt ein geknüpftes Bild-Werk auf der anderen Seite, doch plötzlich … ein kolossaler Schmerz im Schienbein! Die Welt steht kurz Kopf – bis zum allmählichen Wiederaufrappeln. Was war das? Eine lange, massive Hocker-Bank!
Welche Überraschung!
Dann gibt es also im Halbdunkel vor dem Croy-Teppich eine Sitzgelegenheit. Obwohl man sogar ehrfurchtsvoll würde niederknien wollen.
Wie auch immer.
Wer hier jedenfalls keinen Blick für das Wesentliche hat, geht stolpernd zu Boden.
Lebensdaten
Drei Tage nach der Geburt ihrer Tochter, am 8. Nov. 21, ist Margarete Warnecke gestorben. Ihr gemauertes Grabmonument steht wie eine Festung auf dem Schweriner Alten Friedhof. Vor wenigen Tagen stolperte hier ein imaginäres Rädchen über die Hunderter-Schwelle.
Wer darüber nachsinnt und rechnen mag, sieht an vielen Gräbern kleine Zählwerke, denen aber alles präzise mitgegeben wurde.
Stand bei den Warneckes die reduzierte Jahreszahl für eine schicke Verknappung auf das Notwendigste? Oder war dem Gatten Eberhard das alte Jahrhundert zu abwegig und das nächste fern genug?
Wer jedenfalls ’83 geboren wurde, hätte ’21 noch das halbe Leben vor sich haben sollen. Das sieht man hundert Jahre nach Margarete auf den ersten Blick.
Kunstnacht
Ein Geiger, der malt und seine Fans immer wieder überrascht.
Ein Friseursalon, der für eine Nacht zur Galerie wird.
Ein Kontrabassist, der zum Dienst eilt – durch jene Gasse, in der die Leute verkleidet auf dem Straßenpflaster tanzen.
Der Geiger lockt den ahnungslosen Kontrabassisten herein:
„Ich bin dem Streichen treu geblieben.“
„Und ich hab keine Zeit.“
Überall stehen Bilder. Sinnlich und eigen. Ein Stillleben mit Rotweinglas, in dem sich das Licht stimmig fängt, lässt den Bassisten zusammenzucken.
„Das da!“, flüstert er hinter seiner Maske. „Heb‘ es für mich auf, ich ruf‘ dich an.“
Schon ist er weg.
„Das wollte ich auch!“, jammert die Friseuse.
Zu spät.
Abschied von Gülsary
ALLE MÄRCHEN SPIELTEN HIER. Schon immer. Hier – das war Frankenhorst. Auch Romane, Novellen und Erzählungen wurden für mich hier sozusagen … verfilmt! Jede Lektüre, sobald sie Bilder erzeugte, führte mich daher an den Ort meiner Kindheit.
Als ich neulich von dort in der Dunkelheit den schmalen Weg nach Carlshöhe nahm und hinter der scharfen Linkskurve stramm in die Pedale trat, weil es nun bekanntlich bergauf ging, stieß der Lichtkegel meiner Lampe auf ein abgestelltes Fahrrad, dessen Rück-Reflektor rötlich aufblitzte. Eine Welle tiefen Mitleids erfasste mich, einen Moment nur, bis ich wusste, warum. Ich musste an die Pferdekutsche denken, von der ich einst bei Aitmatow gelesen hatte. Sie war nachts in einem Graben in den kirgisischen Bergen zurückgelassen worden, weil der sterbende Hengst Gülsary sie nicht mehr hatte ziehen können.
Dass der verwunschene Weg nach Carlshöhe für mich auch als kirgisischer Horror-Pfad getaugt hatte, war mir längst entfallen. Doch das Rücklicht erinnerte mich daran.
Den Abschied von Gülsary hatte es genau hier gegeben.
Patchwork in der Fußgängerzone
Fiete ist sechs, und er wird heute mal richtig mit seinem Vater reden, denn es ist Papa-Woche. Er will auch mal so cool werden wie Papa. Aber zuerst gibt es ein Eis.
Da hinten kommt Opa, na sowas, dann will der bestimmt auch eins. Opa hat seine Freundin dabei, na klar.
Zwei Kugeln darf Fiete, mehr schafft er sowieso nicht. Schoko wie immer und …
„So ein Zufall“, hört er den Opa brummen. Fiete sieht sich um. Da steht plötzlich Omi.
„Tach, Mama“, flüstert Papa.
Omi und Opa haben sich getrennt, als Papa noch in die Schule ging!
„Hallo Omi!“ Das war Fiete. Mehr sagt er nicht. Er wollte doch nur mit Papa reden heute. Und Omi gehört ganz woanders hin. Nicht mal zu Opa. Und wo dessen Freundin hingehört, weiß Fiete eigentlich gar nicht.
„Schoko und Himbeere“, ruft er schnell über den Glastresen.
Das hallt noch nach, als er das Eis längst gekostet hat.
Denn sonst sagt keiner etwas.


