Interzonenjahre. Sechste Leseprobe

Lohne, 1948

„Ein Notfall, Herr Doktor, meine Schwester!“ Hanni fluppten die Tränen aus den Augenwinkeln.
„Wieder die Luft?“, fragte er. Kannte er doch Gigi!
„Sie kriegt keine mehr. Und sie spricht von Soldaten.“
Der Doktor stöhnte, ließ sie noch so lange an der Treppe warten, bis
er den Arztkoffer geholt hatte, und sagte: „Lauf, Kind!“
Lieber Herr und Vater, du bist so gütig.
Hanni wusste, jetzt würde es Gigi gleich besser gehen.Wenn sie doch
erst dort waren! Wie zwei Landstreicher tobten sie durch den Schnee,
der Doktor kriegte auch kaum Luft. Er musste noch den schweren
Koffer tragen mit den Spritzen und was er dort alles drin hatte.
Die Hoftür knarrte, Howard schoss aus der Hütte. Still, Howard, der
Doktor ist da. Hanni rannte voraus, hielt dem Besucher die Tür auf
und stoppte an Gigis Bett.
Gigi schlief. So entspannt hatte sie lange nicht ausgesehen. Und so
schön. Mama saß am Fußende und konnte den Blick nicht von ihr
wenden. Sie schien nicht zu bemerken, dass der Doktor gekommen
war. Der verharrte an der Tür und hielt seine Tasche mit beiden Händen
fest.

Aus dem sechsten Kapitel

Interzonenjahre. Fünfte Leseprobe

Lohne, Herbst 1947

„Sind die in der Fabrik zu dir auch so gemein, Mama?“, fragte Hanni
abends am Tisch, als Mama gerade ihre Jacke auszog. Noch nie
hatte Mama etwas von der Arbeit erzählt, nur wie das ging mit dem
Korkenstanzen.
„Sind das denn die Mädchen in der Schule?“, fragte Mama leise zurück.
Gigi kam ihr zuvor: „Da musst du dir nichts draus machen. Mit
denen gibst du dich gar nicht ab.“
„Jessesmaaria, so einfach ist das nicht!“ Hanni fühlte sich nicht verstanden.
„Doch, so einfach ist das. Punkt!“ Gigi ahmte Hannis Tonfall nach.
„Ich hör da nicht hin, wenn solche was sagen“, meinte Mama schlicht.
„Aber das tut doch weh!“ Hanni verstand nicht, wie sie ihre Ohren
verschließen sollte. Außerdem sagten die ja nicht nur was, sie machten
auch keinen Platz auf der Schulbank!
„Irgendwann tut das nicht mehr weh, Hanni“, tröstete Mama.
„Schweig einfach drüber weg. Das vergeht mit der Zeit.“

Aus dem fünften Kapitel

Interzonenjahre. Vierte Leseprobe

Lohne, Sommer 1947

[…] „Hier, die habe ich geschenkt bekommen“, flüsterte Gigi, öffnete den
Holzdeckel eines winzigen Emaille-Kästchens und hielt Hanni ein
Stück Seife unter die Nase, das noch etwas feucht war.
Hanni atmete ganz tief ein. Blumen. Wiese. Kräuter.
„Von wem hast du die?“
Gigi hob die Augenbrauen und schmunzelte. Jetzt wirkte sie so viel
älter als Hanni. Vielleicht aber auch nur, weil sie so blass und schmal
und dabei so groß geworden war.
„Von den Engländern. Schokolade auch. Die ist nur zum Tauschen,
Hanni! Aber die Seife“, Gigi schluckte kurz, „brauchen wir selbst.“
„Ja, zum Händewaschen“, sagte Hanni und musste lachen.
Gigi streckte sich und schüttelte ernst den Kopf. „Seife macht schön,
Hanni. Das verstehst du noch nicht.“
Erst als der Holzdeckel zuploppte, spürte Hanni den leichten Stich.
Gigi musste sich wahnsinnig erwachsen fühlen.
„Ich verstehe das längst“, sagte sie tapfer. „Und ich brauche das
auch.“ […]

Aus dem vierten Kapitel

Interzonenjahre. Dritte Leseprobe

An der Elbe, 1945

[…] War Elsa aus einem Pullover herausgewachsen, hatte Mutter ihn manchmal Tante Anni gegeben, damit sie etwas Neues daraus strickte. Der Wollfaden wurde mit der Zeit härter und strippiger, aber für die Großtante war das Räufeln und Stricken immer wie Sport gewesen. Oft hatte sie eine ihrer Stuhllehnen mit alter Wolle umwickelt, damit die sich beim Trocknen dehnte. Dann erst hatte sie sie wieder aufgewickelt und dabei das Knäuel geschickt hochgehalten, so dass der Faden den aufgerollten Metern einfach hinterherrannte. Früher hatte Elsa die Großtante gern angefeuert …  schneller, schneller! Dann sah es so aus, als würde der Stuhl nur aus Garn bestehen und sich langsam selbst auflösen. Elsa brauchte nur zu blinzeln, um dabei solche komischen Szenen zu sehen. Irgendwann ließ sich die Großtante nicht mehr antreiben, weil sie kein Gaul wäre!
„Geh doch spielen“, sagte Tante Anni am Fenster.
„Ich spiel ja schon“, antwortete Elsa. […]

Aus dem dritten Kapitel

Interzonenjahre. Zweite Leseprobe

Unterwegs, 1945

[…] „Darf ich mal?“
Elsa nickte irritiert und überließ der Anderen ihre Hände – kalt, rauh und schmutzig. Vielleicht sollte sie etwas abgelenkt werden. Wenn die Frau die Kraft dazu hatte, sollte es Elsa recht sein.
Noch nie hatte ihr jemand die Hände massiert, jeden Finger, jedes Knöchelchen und sogar die Kuppen. Erstaunt ließ Elsa locker. Die kleinen Wülste, an denen sich die Lebenslinien auf dem Handteller entlang zogen, schienen zu reagieren, und Elsa kroch dichter an die junge Frau heran.
„Kannst du aus der Hand lesen?“
Die Frau schüttelte den Kopf.
„Wer kann das schon? Also so, dass es auch stimmt?“ Sie lachte. „Aber es gibt so viel Leben in den Händen und wenn du hier das Daumen-Dreieck ein bisschen knetest, dann tut das immer gut.“
Sogar Großmutter fingerte sich ihre Hände zurecht und suchte die Stelle.
Anni jedoch griff nach der Kerze, deren Messinghalter Elsa aus der Küche kannte, und flüsterte:
„Wir müssen das Licht löschen.“ […]

Aus dem zweiten Kapitel

Interzonenjahre. Erste Leseprobe

Königsberg, 1944

[…] Wenn Dieter kam, durfte er die alten Schuhe seines Vaters anbehalten, solange Elsa mit ihm in der Küche blieb. Er roch seine eigenen Füße nicht, aber Elsa konnte beim Einatmen das Bittersaure nicht wegfiltern. Vielleicht wurden Dieters Socken im Winter nicht gewaschen, weil er kein zweites Paar hatte. Großmutter holte das Bonbon-Glas aus dem Wohnzimmer. Mutters Laden hatte eine kleine Lieferung bekommen aus Borntuchen. Da gab es eine Frau, die Bonbons aus Rübensaft kochte. Früher, als fast noch Frieden gewesen war, hatte der kleine Dieter einmal alle Süßigkeiten weggenascht, die er bei Elsa gefunden hatte.
„Die müssen wir wegschließen, wenn der Bursche mal wiederkommt“, hatte Großmutter damals zu ihrer Tochter gesagt. Jetzt aber hatte sie das Glas extra auf den Tisch gestellt.
Dieter schloss beim Lutschen die Augen. „Rübe“, sagte er mit Kennermiene, „und Wiesenkräuter“.
Elsa schob sich auch einen Bonbon in den Mund, obwohl sie sich nichts aus Süßigkeiten machte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, brauchte sie gar nichts essen. Sie hatte nie Hunger. Widerwillig kaute sie, was Großmutter für sie zusammenstellte. […]

(Aus dem ersten Kapitel)

Die Kraft des Rituals

Zai An geht zurück nach China. Sie hat es sich reiflich überlegt und verschenkt ihre Bücher und Teeschalen.
Es gibt kein Abschiedsfest. Doch Stunden vor ihrer Abreise lädt sie die Freunde in den Park vor dem Institut ein. Zum Jīngāng gōng.
Dafür lehnt sie eine alte chinesische Musikbox, die mit ihren wenigen Knöpfen wunderbar einfach zu bedienen ist und ausschließlich buddhistische Klänge gespeichert hat, an die Platane.
Zai An macht sich zur sanften Melodie sehr gerade und streckt ihre schmalen Schultern. Die Freunde, im Kreis, tun es ihr gleich.  Sie schwingen ihre Arme weit und halten während einer Drehung inne, wie es einst gelehrt wurde.
Bei jeder Übung scheinen kleine Impulse entferntere Winkel des Körpers zu erreichen.
Das Ritual nimmt allem die Schwere.
Für Zai An beginnt so jeder Morgen. Für manche ihrer Freunde hier auch.
Das bleibt – selbst, wenn es kein Wiedersehen geben wird.

Buchpremiere in Schwerin

Im Rahmen der 25. Literaturtage fand am 16. Oktober 2020 in der Schweriner Stadtbibliothek eine Buchpremiere statt:
Interzonenjahre. Ein Ost-West-Roman
Musikalische Begleitung: Klaus Gebauer

 

Einmal ausgeholfen

Das Postauto hielt mitten auf der Straße. Ein brünetter Lockenkopf schob sich aus dem Fahrerfenster. „Steh ich im Weg? Ich mach mal auf.“
Lächelnd stellte sich die Postfrau neben die offene Fahrertür. „Ich bin heute die Aushilfe hier.“
Als würden sich alle Hausnummern gerade hinter riesigen Sonnenblumen verstecken, fragte sie nach der Nummer 16. Und zur Nummer 40 müsste sie auch noch. Aber die liege wohl hinter der Absperrung.
„Ich dreh mal wieder um.“
Das war gar nicht so einfach.
Dann fiel ihr die Nummer 16 wieder ein. Ein Paket. Es war sogar jemand zu Hause.
Der gelbe Kasten schaukelte im ersten Gang weiter. Nach hundert Metern, kurz vor der Kreuzung, fand sich eine Parklücke – rein da!
Arme Aushilfe.
Was sie wohl sonst bei der Post zu tun hatte?
Wenig später klingelte es. Da stand sie, außer Atem, verschwitzt und dennoch lächelnd. Unter dem Arm hielt sie ein Päckchen.
„Sie kriegen doch auch was!“