Frankenhorst. Eine neue Erfahrung

Ich hatte noch nie einen Esel geführt und staunte, wie er neben mir her trottete an der kurzen Leine, die ich dann lockerte, so wie Charlotte es vor mir mit ihrem Esel auch tat. Bis zum Gertrudenhof hinauf wollten wir. Der verschlungene Pfad war mir aus Kindheitstagen sehr vertraut, obwohl er sich zig Mal verändert hatte, mit jedem Sturm. ALLE MÄRCHEN SPIELTEN HIER. Ich legte eine Hand auf das borstige Rückenfell meines Begleiters und spürte wohltuende Wärme. Das frische Grün am Wegrand lockte. Beide Esel fingen plötzlich an zu grasen. Nach einer Weile zog Charlotte ihre Leine straff. Das genügte. Ich jedoch versuchte es mit gutem Zureden. Gelacht haben wir später darüber. Wer war die Chefin im Gespann?
Nach der Rückkehr, als ich das Halfter abstreifen wollte, die Schnalle schon geöffnet hatte und mein Esel die Ohren gerade so schön nach hinten gelegt hatte, halfen wieder die Worte nicht. Einfach drüberziehen, sagte Charlotte. Ach so. Und ich sah den gelenkigen Eselsohren zu, die sich zunächst aufrichteten und dann überraschend mühelos nach vorn sanken.

An einem Esel würde es nie gelegen haben.

Poivre. Damals in Ventspils

Ich mochte es, wenn Zühal mich ansprach. Sie kam aus Paris und artikulierte meinen Vornamen so, dass ich mich wie die Deneuve fühlte.  Zühal verkörperte eine Mischung aus Noblesse und fröhlichem Pragmatismus.  Im Handumdrehen zauberte sie Drei-Gänge-Menüs pour deux. Sie lachte dabei und zeigte mir nebenher, wie scharf ein Ingwer-Aufguss werden sollte, damit er bei Erkältungen half.
„Au citron, Catherine!“ Die Presse stand immer auf dem Tisch.
Mit einer eleganten Handbewegung reichte sie mir dann das Honigglas.  Einen Esslöffel pro Tasse, aber nicht in den kochenden Sud!
„Où est le poivre?“
Das war der Clou. Pfeffer! Frisch aus der Mühle.
Die Wirkung setzte  immer sofort ein.
Ich konnte nicht genug davon bekommen – ob mit oder bald ohne Halsweh – kaufte viel zu viel von allem und  hinterließ meinen Nachfolgern im Autorenhaus ein knorriges Riesen-Ingwer-Gebilde.

Manchmal denke ich an Zühal.  Freunde braucht man auf der ganzen Welt.

Lesung beim „FRÜHLINGSERWACHEN“

am 23. April 2022 um 15 Uhr in der Schweriner Münzstraße 33
aus INTERZONENJAHRE : ein Ost-West-Roman.

Im Bistro

Der Urlauber hat bereits bezahlt. Er greift nach der Jacke am Garderobenständer und erkennt sie beim Hineinschlüpfen nicht wieder. Welch ein Schreck!
Da hängt noch eine andere, aber es ist ein Damen-Anorak. Dem Urlauber entfährt ein Fluch. Die Fahrzeugpapiere, die Autoschlüssel!
Die Wirtin, rundlich und knallhart optimistisch, hat vornehmlich mit Stammkunden zu tun:
„Dieser Anorak gehört Frau Ebeling. Ihr Mann ist gerade los. Da hat der sich wohl geirrt!“
Endlich kommt Frau Ebeling von der Toilette. Sie begreift sofort, gibt dem Faltenensemble auf ihrer Stirn eine grimmige Note, brummt „das haben wir gleich!“ und verlässt das Bistro.
Minuten später stürmt sie erneut herein, die Jacke des Urlaubers wie eine Trophäe vor sich her tragend. Schlurfend folgt ihr ein Greis im Hemd.
„Entweder ist er in der einen Buchhandlung oder in der anderen“, erklärt sie.
Der Urlauber hüllt sich erleichtert in seine Jacke, Herr Ebeling mürrisch in die andere. Mag er doch nicht so recht Reue bekennen. Statt einer Entschuldigung lässt er also eine Drohung hören:
„Nicht, dass da meine Brille noch drin ist, junger Mann!“

Wer weiß …

Mit beiden Beinen soll man fest auf dem Boden stehen, am besten in bequemen Schuhen, dann kippt man nicht um. Was da auch komme.
In der Engen Gasse, zwischen Musikhaus und Kneipe, baumeln nun mehrere Paar Schuhe in der Luft.
Der leiseste Windstoß bringt sie in Bewegung, das Wetter hat ihnen zugesetzt. Ich wüsste so gern, wer sich von diesen Tretern trennen musste und jetzt vielleicht barfuß herumläuft!
Der Gastwirt öffnet seine Schotten und gerät ins Plaudern.
Die Schuhe? Die seien von denen, die ihre Zeche nicht bezahlt haben.

Ob die dann noch mit beiden Beinen fest auf dem Boden …?

Von der Angst nicht abgehärmt. NICHT ABGEHÄRMT!

Gitta hat NO WAR auf ihre Maske geschrieben.
Sie kann nicht schlafen, weil auch sie einen erwachsenen Sohn hat.
Und eine Tochter.
Welch großes Glück!
Als 13-Jährige hat sie sich in den Schlaf geweint. Die Neutronenbombe, der NATO-Doppelbeschluss und die SS-20-Raketen jagten ihr höllische Angst ein. Vom seidenen Faden war die Rede: Vielleicht würde alles ganz schnell gehen, und sie käme nicht einmal dazu, die Gasmaske überzustülpen.
Sie wäre ungeküsst geblieben.

Wie ähnlich wir uns waren!
Wenn dieses Schulchor-Lied gesungen wurde, fürchtete ich immer, es wäre alles längst zu spät.

 https://www.youtube.com/watch?v=xuqrMhE2KOM

Der einfache Friede

Wenn ein Gras wächst, wo nah ein Haus steht,
und vom Schornstein steigt der Rauch,
soll’n die Leute beieinander sitzen,
vor sich Brot und Ruhe auch,
und Ruhe auch.

Das ist der einfache Frieden,
den schätze nicht gering.
Es ist um den einfachen Frieden
seit Tausenden von Jahren
ein beschwerlich Ding.

Wo ein Mann ist, soll eine Frau sein,
dass da eins das andre wärmt,
soll’n sich lieben und soll’n sich streiten,
von der Angst nicht abgehärmt,
nicht abgehärmt. […]

Lwiw 2019

Der kleine Flohmarkt hatte etwas Anziehendes. Abzeichen, Groschenhefte, ukrainische Fähnchen und allerlei Schnickschnack lagen sortiert in der Sonne. Doch der Händler ließ die Gelegenheiten, seine Dinge unter die Leute zu bringen, verstreichen.
Er las.
Es war Frieden.

Der Verjüngungstrick

Bogoljub Karić, ein serbischer Oligarch, ist achtundsechzig geworden und will sich damit nicht abfinden.
Er fühle sich längst nicht so alt, steht in unserer Zeitung.
Bereits vor drei Jahren hatte Karić eine amtliche Verjüngung beantragt. Sein Geburtsjahr (1954) sollte in allen Papieren um zwanzig Jahre verschoben werden!

Ich schicke den Zeitungsartikel einem Freund, der in Serbien wohnt. Dazu ein Fragezeichen. Seine lakonische Antwort:
In Serbia everything is possible.

 

 

 

Zum Verbleib von Busfahrscheinen und kleinen Dingen. Ein Alltagsrätsel

Früher hingen halbrunde Drahtkörbe an den Stangen für das Haltestellen-Schild. Heute sollen die abgestempelten Fahrscheine durch eine viereckige Öffnung in einen aschenbechergroßen Metallbehälter gesteckt werden. Das geht nicht einfach im Vorbeigehen, da muss man stehenbleiben und das in der Hand verschwitzte oder während der Fahrt gedankenlos um einen Finger gerollte Ticket durch diesen Einwurf-Schlitz bugsieren. Ist versehentlich ein Geldschein mitgerutscht, gibt es kein Zurück.
Wie wird dieser Behälter aber geleert, nachdem die kippbaren Drahtkörbe ausgedient haben? Ich dachte, ich würde es nie erfahren.
Doch sah ich kürzlich ein winziges Gefährt, das eher nach einem vierrädrigen Schränkchen mit Fahrerkabine aussah, an einer Haltestelle stoppen. Ein Mann in signalfarbener Latzhose sprang heraus, zückte vor dem Fahrscheinkästchen einen Schlüssel und ließ den Inhalt in einen Eimer fallen, Klappe zu, Eimer im Schränkchen geleert, wieder eingestiegen, weiter.
Nach Geldscheinen hat er gar nicht geguckt.