Eröffnung des Klützer Literatursommers

… mit einer Lesung aus „Herzkaspertheater“
am 22. Juni 2024 um 18 Uhr im Literaturhaus „Uwe Johnson“
Im Thurow 14, 23948 Klütz

Musikalische Begleitung: Andreas Pasternack und Chistian Ahnsehl

Eintritt: 25 EUR
Der Veranstalter bittet um Reservierung von Tickets.
Tel.: 038825-22295

https://literaturhaus-uwe-johnson.de/veranstaltung/eroeffnungsveranstaltung-des-kluetzer-literatursommers

Jeder macht sich sein Bild

In Ausstellungen fotografiert man nicht. Das ist wie ein Gesetz.
No flash steht manchmal auf kleinen Schildern. Dann ist es erlaubt. Jedoch ohne Blitz!
Bei CDF zücken alle ihre Smartphones.
Unendlich ist der Himmel über dem grünschwarzen Meer. Möwen und Schaumkronen sind winzig getupft. Am Mönch gucke ich mich fest und erinnere mich an die Lektüre, in der die ganze Last der Trauer beschrieben ist, die Caspar David Friedrich erdrückt haben muss.
Ich krame verstohlen mein Smartphone hervor und mache ein Foto. Mit zwei Fingern ziehe ich den Ausschnitt größer – bis ich meine, mehr zu erkennen.
Der Mann am Meer wirkt sehr jung, fast knabenhaft. Vermutlich ist er barfuß. Jetzt könnte ich mir sogar ein Gesicht dazu vorstellen.

So viel Nähe war sicher nicht vorgesehen. Und mit unserem Voyeurismus hat Friedrich nicht gerechnet.

Im Wahn

Der Regionalzug ist rappelvoll am Sonntagnachmittag, weiterrücken geht nicht mehr, vorsichtig vorbeischlängeln auch nicht. Überall stehen Koffer und Körper an Körper. Wer sitzt, hat Glück.
Ein Mann wedelt mit den Armen und verkündet lauthals, er heiße Andreas Soundso. Dann hält er sich an der nächsten Gepäckablage fest, schwingt seinen Oberkörper weit in eine Viererzone und schreit, dass er gerade Frust schiebe und alle staunen würden, wie schnell jetzt ein paar Fressen poliert würden.
Einem Rentner an der Gangseite kommt er so nahe, dass er nur eine halbe Armlänge bräuchte um auszuführen, was er in bildhafter Fäkalsprache gerade prophezeit hat.
Sonst ist Stille im Waggon.
Aber Andreas Soundso schreit ja nur. Er tut nichts. Irgendwie ist das klar.
Dennoch schiebt sich der Rentner Bluetooth-Kopfhörer in die Ohren und schließt die Augen.
„Potsdam!“ Soundso findet ein Adjektiv, das diese Stadt verhöhnt, will eigentlich aber wissen, ob er die Station schon verpasst hat.
„Verpasst, ey, hörst du?“, grölt er und schimpft den Rentner einen Hurensohn, der sich seine Ohrstöpsel …
„Nein“, sagt plötzlich eine Frau ruhig und fest. „Nicht verpasst! Sie sind im falschen Zug.“
Beim nächsten Halt bildet sich ein Spalier, damit es Andreas Soundso auch wirklich bis nach draußen schafft.
Potsdam liegt am anderen Ende der Welt.

Else und Hans

– Möchtest du noch einen Tee, Hansel?
– Hab‘ noch.
Ein Waffelröllchen dazu?
Ich faste doch.

– Kann ich auch mal in deine Zeitung gucken?
Das machste doch schon.
Blätter‘ mal bitte weiter.
Steht aber überall was von Kriegen.
Dann lass.

Küchentopografie

Bayrisch Kraut liebte sie schon als ganz kleines Mädchen. Da wusste sie noch gar nicht, dass es Bayern gab. Sie kannte nur Bremen, weil dort die Westpakete herkamen. Doch durfte die Familie da nicht hinfahren. Die Omas wohnten im Spreewald und in Ostberlin. Jede Reise mit dem alten Trabi dauerte eine Ewigkeit. Aber in Berlin gab es dann Schlesische Kartoffelklöße und Thüringer Bratwurst. Und manchmal wurde auch Bayrisch Kraut serviert. Das schmeckte lieblich, nicht so bitter-salzig wie das Sauerkraut im Kindergarten.
Viele Jahre später hatte sich die Welt mannigfach gedreht. Das einst kleine Mädchen stand am eigenen Herd und rührte die schmalen, kurzen Kohlstreifen im angebratenen Speck. In Bayern war sie längst gewesen und zur Bratwurst gab es nun Dijon-Senf.
Typisch deutsch, wahrscheinlich.

Der Turm

Eine Schicht buckelt,
welches Holz ruckelt?
Wo schiebt es sich leicht,
fließend und seicht?
Kurz gibt es ein Stocken,
ein mittlerer Brocken
klebt konsequent
im Fundament.
Das Nachbar-Holz bebt,
bis es dann strebt
hinaus wie ein Wurm –
Gefahr für den Turm!
Manche Nuance
sorgt für Balance.
Kluges Platzieren
und Austarieren
erhöhen Niveau
und Risiko.
Noch wissen wir nicht,
WANN er zerbricht –
das ist nun mal eben
wie sonst so im Leben.

ksh

 

Für Zeitungsleser

Früher waren Zeitschriften und Zeitungen beim Friseur in Holzleisten geklemmt und an Haken aufgehängt. So ließ sich versehentliches Einstecken verhindern. In manchen Hotelfoyers gibt es die Pressestangen heute noch. Oft baumeln die Papierausgaben aber wie Trockentücher vor den Paneelen, während die Gäste ihre News digital konsumieren.
Falls die klassische Presseschau bald als nicht mehr zeitgemäß angesehen wird und Hakenleisten Monitoren weichen müssen, …

… wird es immer noch ein berühmtes Café in Lübeck geben, das der Tradition treu bleibt. Die historische Inneneinrichtung lässt nämlich keine Alternativen zu. Seit eh und je wird die regionale Tageszeitung in mehrfachen Exemplaren um alte Klemmstöcke gewickelt und in Rundfach-Regalen abgelegt.
So etwas gibt man nicht auf.

Wahrnehmungen

Beim Tapetenabreißen kommt plötzlich der Hausgeist zum Vorschein, der einst auch durch die Heizungsrohre gegluckert und anderentags im Waschbecken-Abfluss hängen geblieben war. Jedes Mal gebärdet er sich anders, um Aufmerksamkeit zu erregen. Droht er uns nun oder lacht er uns aus?
Das …

… hängt vom Lichteinfall ab.

In der Straßenbahn

Auf der freien Sitzbank gegenüber lag das Passbild eines lächelnden Mädchens: lange Haare, fein geschminkt – ein Teenager. Dass das Foto aus einem Schülerausweis stammte, verrieten die gelben Papierfetzen auf der Rückseite. Warum drehte ich es um? Es ging mich doch gar nichts an! Aber ließ man denn solch ein Bildchen einfach liegen?
Sicher.
Zurück auf den Sitz damit.
Momente später nahm eine füllige Dame in einem langhaarigen Teddypelzmantel auf jener Bank Platz.
An der übernächsten Haltestelle erhob sie sich, drehte sich zur Tür und stieg behäbig aus dem Wagen. Ich konnte zwischen ihren Teddyhaaren kein Passbild ausmachen. Es war aber auch nichts zu Boden gefallen.
Das Mädchen war verschwunden.

Der Lebensretter

Der Junge war ungefähr 12, damals, in den 1950er Jahren, als er zum Stromern in den Wald ging. Der Hund seines Onkels lief mit. Es war einer von den scharfen, die der Junge eigentlich nicht mochte. Aber so waren sie zu zweit.
Sie kamen zu den überwucherten Bunkern, diesen eilig gegrabenen und notdürftig befestigten Stellungen aus Zeiten, die der Junge noch im Ohr hatte. Ein Panzerwrack hatte den Kindern dort auch manchmal als Versteck gedient; inzwischen war die Tarnschicht aus Grasbüscheln und Zweigen zu einem Biotop geworden. Der Hohlraum darunter war seit Jahren feucht und stank.
Als der Junge nun feststellte, dass er schon mitten auf diesem Wrack stand, war es bereits zu spät. Sein rechtes Bein schrammte an unsichtbaren scharfen Kanten ins Bodenlose.  Kurze Zeit hing der Junge fest, und die Kiefern schienen um ihn herum zu kreisen. Dann krachte er mit voller Wucht ins Dunkle hinunter.
Wie lange er dort zitterte, weiß er nicht. Doch entschloss er sich irgendwann, einen Versuch zu wagen hinauszukommen. Die Wunde an seinem Bein  brannte wie die Hölle. Es gab aber Wege, die gekrochen werden konnten. Zur Not. Auch aus diesem Wrack hinaus. Als er schließlich auf dem Waldboden lag, war der Hund nicht mehr da.
Der zähnefletschende Gefährte hatte ihn verlassen!
Entsetzt schleppte sich der Junge ein paar Meter und lehnte sich an einen Baum. Es gab genügend Stämme zum Ausruhen. Seine Fleischwunde band er mit einem Taschentuch ab, der Schuh war schon voller Blut. Er durfte nicht hinschauen, sonst kippte er um. Einfach weiter. Immer weiter.
Irgendwann hörte er ein Bellen, sah das Tier an der straffen Leine und dann den Onkel, der kaum Schritt halten konnte und endlich kapierte, warum der Hund ihn in den Wald geholt hatte.

Nachkriegszeiten …