Das Untersuchungszimmer ist fensterlos.
Die wechselnden Nordsee-Fotos auf dem Monitor hellen den schmalen Raum ein wenig auf, aber Heinrich hat die Serie bereits hundert Mal gesehen.
Dass er mit 40 schon hierher muss, findet er unangemessen früh.
Seit einer halben Stunde fallen ihm auf der Liege immer wieder die Augen zu. Die Schiebetür zum Nachbarraum ist einen Spalt breit geöffnet.
Nebenan treten zwei Frauen vom Personal ein. Unterdrücktes Kichern und das Rascheln von Zellstoff lassen Heinrich hellwach werden. Endlich ist etwas los hier – zumindest in Hörweite.
„Brauchst nur den Reißverschluss ein bisschen aufmachen, das reicht.“
„Du schmierst mich voll!“
„Natürlich. Wir wollen doch was sehen!“
Stille. Geradezu prickelndes Schweigen. Heinrich hebt den Kopf, damit ihm nichts entgeht.
„Guck mal, das sind zwei!“
„Quatsch!“
„Echt jetzt.“
„Du hast ja keine Ahnung.“
Heinrich bedauert, dass die Schiebetür mit einem Ruck geschlossen wird.
Wenig später kommt eine der Ärztinnen durch genau diese Tür und wendet sich Heinrich zu.
„Sie haben lange gewartet.“
Er hebt kurz die Schultern an, räuspert sich und bemerkt feine Knitter in ihrem Kittelstoff. Dann ist sie es also. Wirklich mit ZWEIEN? Das hätte er gern gewusst.
Eine, die aufpasst
Die Frau, die mir in der Straßenbahn gegenübersitzt, hat graue Struppelhaare mit orange-gelben Spitzen und erinnert an einen Igel. Als die Bahn anfährt, presst sie ihre Einkaufstasche an sich und verdeckt die mit Schwung gemalten Buchstaben Citybag. „Da muss man ja aufpassen“, lacht sie, sucht bestätigende Blicke und nickt vor sich hin. Dann stellt sie die Tasche zwischen die Beine auf den Boden. So hat sie ihre Hände frei, wofür auch immer.
„Samstags ist es ja auszuhalten“, sagt sie ins Blaue hinein.
Niemand fragt, was sie meint.
„Keine Schulranzen in der Bahn“, antwortet sie trotzdem.
Stimmt. Mit dieser Linie bin ich damals schon zur Schule gefahren, und wir standen immer zu viert oder fünft, übrigens auch samstags. Aber da gab es die neue Haltestelle noch nicht, die meinen Weg zur Straßenbahn halbiert hätte.
Ich stehe auf.
Der mächtige Igel stürzt auf mich zu und hält mir beide Hände entgegen. „Die Kurve!“
Ich plumpse brav auf den geformten Sitz zurück und wage erst mich wieder zu erheben, als die Bahn schon bremst.
„Sehen Sie! Ich weiß das nämlich.“
Befriedigt streicht sie über ihre Stacheln.
Ein Wintergedicht aus K.
Wie weiße Blüten vom alten Holunder
schneit es Kristalle – ein Eiswinterwunder.
Im Himmel geformt, ganz ungestört,
wie es im Paradies sich gehört,
scheinen die Gärten üppig zu blühen,
derweil auf den Straßen die Männer sich mühen,
sie hacken und schaufeln, sie schwitzen und fegen,
ICH halte den Flocken die Nase entgegen.
Gennadi Rodin, übersetzt von Pavel Z., nachgedichtet von ksh
Vitalij Rodin, der Sohn des Kaliningrader Seemanns Gennadi Rodin, fand im väterlichen Nachlass überraschenderweise romantische Gedichte und vertonte sie. Seine Band Dirizhabl hat dieses Gedicht in einem Konzert spontan aufgeführt – der schönste Moment des Abends, wie Pavel Z. sich erinnert.
Klingelzeichen
In unserer alten Dorfschule durften wir Kinder das Lehrerzimmer nicht betreten. Wenn es doch drängte, dort an die Tür zu klopfen, hatten wir vor der Schwelle stehenzubleiben. Denn dieses von kaltem Rauch durchzogene Zimmer mit richtigen Gardinen an den Fenstern war das Refugium des Lehrpersonals.
Das Wort Konferenz werde ich immer mit den abgewetzten ocker-gelben Sitzpolstern der hier aufgereihten Stühle verbinden. Hier wurde über Schülerschicksale entschieden. Und hier war die Schulklingel, ein Schalter, der direkt neben dem für die Deckenlampe angebracht war.
Wenn mitten im Unterricht ein krächzendes Kurzklingeln ertönte, hatte ein Lehrer beim Lichtanknipsen nicht hingeguckt.
Die Schulsekretärin kümmerte sich um die richtigen Klingelzeichen. Sie ertönten exakt auf die Minute und in immer derselben Länge. Manchmal verstolperte sich das Signal, gerade zum Ende der Hofpause. Dann hatte ein Schüler als kleine Belohnung drücken dürfen.
Einmal in meinen drei Jahren an dieser Schule durfte auch ich. Mein Herz raste. Ich musste den Arm noch strecken, um mit dem Zeigefinger in die Höhe der beiden Schalter zu gelangen. Und dann drückte ich, bis die Fingerkuppe ganz weiß wurde. In der Unterstufe rannten die Kinder noch, wenn es klingelte. Ich sah es durch die Gardinen. Was für ein Zeichen.
„Reicht jetzt!“, murmelte die Sekretärin.
Geräusche, nachts
Als wenn auf den Dachpfannen gekegelt würde.
Oder eine Mülltonne durch den Garten gerollt.
Ratterdi-ratterdi-ratterdi.
Das Herzklopfen hört sich schon genauso an.
Da ist doch jemand!
Stille – – –
beim Blick über die Reihenhaus-Höfe.
Ganz hinten hängt eine rot leuchtende Lichterkette
an der Hecke durch. Warum jetzt noch?
Schaumwaffelweiche Bettschwere.
Ratterdi-ratterdi-ratterdi.
Marder?
Die klingen doch nicht wie Mülltonnenräder.
Dann ist es ja gut. Vielleicht.
Der Puls hat sich schon beruhigt.
Ein Königreich für einen Hühnerstall
Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens zählt gnadenlos auf, was man zu gewissen Anlässen dringend bzw. auf gar keinen Fall tun sollte. Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ist besonders schicksalsträchtig.
(Bin ich etwa abergläubisch? War ich einst immerhin mutig genug, eine schwarze Katze ins Haus zu lassen …)
Nun wird offenbar, welche Kette von Unglücken mir schon hätte widerfahren können, nur weil ich zwischen Weihnachten und Neujahr das Notwendigste an Wäsche gereinigt und gar die Stube durchgesaugt habe. Das ist seit Jahrzehnten gutgegangen, vielleicht aber auch nur haarscharf. Wer weiß das schon?
Man könnte – andersherum – dem Schicksal ein wenig auf die Sprünge helfen. Folgendes soll jedoch wirklich nur an diesen Tagen gelten: Wem es gelingt, dreimal unbemerkt in den Hühnerstall hinein- und herauszukommen, dem ist ein glückliches Jahr bestimmt.
Ganz einfach. Also, bitteschön!
Benedictus
Der Wind bläst in die Fock, der Mastbaum schwingt rüber und neigt Gustavs Boot Benedictus ein wenig. Fließend nimmt es Fahrt auf und bremst auf wundersame Weise ab, als es die schwankende Reihe der anderen erreicht, die auf das Signal warten.
„Noch eine halbe Minute bis zum Start!“
Regattawetter.
„Noch fünfzehn Sekunden! Noch zehn! Neun! Acht! …“
Das Hupen ist über den ganzen See zu hören.
Die Bootskörper setzen sich in Bewegung, einer driftet gleich zur Seite und plant die Boje im großen Bogen zu nehmen. Benedictus prescht ab durch die Mitte, Gustav rollen die Schweißperlen.
„Zieh durch! Die anderen müssen ausweichen!“, feuert sein Kumpel ihn an.
Das Joypad wie eine Brottasche vor dem Bauch, versucht Gustav Segel und Ruder so fernzusteuern, dass Benedictus den kürzesten Weg und die beste Zeit einfährt. Die Konkurrenz neben ihm kringelt, kreuzt, kraftmeiert. Alles gestandene Männer.
Als die Hupe drei Mal über den See trompetet, ist das Rennen beendet und auch der Letzte durchs Ziel gekommen. Er hat sich gequält, konnte nicht schneller, denn bei ihm hängt Schlick am Ruder! Sein Lachen klingt bemüht.
Wenn früher im Jungs-Kinderzimmer die H0-Lok aus den Schienen sprang, war’s ja auch doof.
Schuhe
Einer 15-Jährigen stellen sich bei Familienritualen schnell die Nackenhaare auf, da kann sie gar nichts machen. Sie hofft selbst, dass das irgendwann vorbeigeht. Aber die mit übertriebenem Augenzwinkern vorgebrachte mütterliche Ermahnung, heute ausnahmsweise an das Schuheputzen zu denken, fühlt sich für sie nun mal so an wie die Erlaubnis, Teletubbies gucken zu dürfen.
Geht gar nicht!
Muss aber!
Die Schuhe haben zu glänzen. Es würde zwar in jedem Fall Schokolade geben, aber möglicherweise auch schlechte Stimmung am Frühstückstisch. Welche Botten sie vor die Zimmertür stellt, ist egal.
Püppchen Gerda ist vor vier Jahren noch komplett neu eingekleidet worden. Nie hat sie ihm jemals die Schnallenschühchen abgestreift. Es geht ruckzuck. Sie reibt mit dem Finger den Staub ab, platziert die Winzlinge vor der Türschwelle und kann den Nikolausmorgen kaum erwarten …
Doppelgriffe
Welcher kleine Geiger spielt schon gern Doppelgriffe – also jene Wagnisse, bei denen zwei Saiten zugleich angestrichen werden? Meist kann eines der aufgesetzten Fingerchen nicht richtig hören und wird vom Lehrer deshalb sanft zurechtgerückt. Ja, sanft, damit die Töne sauber klingen. Trotzdem scheint es dem Kind in den Knöcheln zu knacken. So fühlt es sich jedenfalls an.
Lehrer L. kennt das. Als er elf Jahre alt war, auf der Flucht, war ihm nur die Geige geblieben. Mutter und Geschwister hatte er im Gedränge auf dem Bahnhof verloren. Für ein paar Tage durfte er sich einer anderen Familie anschließen. Die hatte Freude daran, dass er trotz allem auf der Geige weiterspielte.
So einer hantiert auch doppelgriffig. Und er schreibt Jahrzehnte später für seine Geigenschüler ein Stück, in dem die Doppelgriffe Spaß machen und auch die Fingerchen das Hören lernen.
Affentänze
Flitzt ein Eichhörnchen an mir vorbei, bleibe ich stehen und staune – über die Spiralen, in denen es einen Stamm hinauf eilt und über die waghalsigen Sprünge, die ihm nichts ausmachen.
Nun hetzten vier Katta-Äffchen über meinen Weg. Eines tobte die Fahnenstange in einem Vorgarten hoch, flog von ganz oben hinüber auf eine Eiche und jagte mit den anderen so ausgelassen durch die Baumkronen, dass die Äste nicht wieder zur Ruhe kamen.
Wurden die nicht vermisst im Zoo?
Es war nicht weit.
Vermisst? Nein. Die Kattas hätten doch gerade Ausgang!
Ach so. Der sei ihnen gegönnt.
Aber wenn die Tiger Ausgang bekommen, möchte ich es vorher ganz gern wissen.
