Heinrich Roller

 

Stenografie wollte ich eigentlich vor dem Studium gelernt haben – so wie mein Vater, der heute noch alles Wichtige zunächst in Kurzschrift verfasst. Das geht schnell und spart Platz.
Ich habe mich dennoch nie mit Steno beschäftigt. Es ging auch ohne.

An diesem Grab in Berlin irritierte mich zunächst die echte Vogelfeder, die jemand in den Kiel gesteckt hatte. Dann erst erfasste ich ihren Sinn. Die vor dem Grabstein stehende Muse scheint gerade einen Abbreviationskringel setzen zu wollen.
Heinrich Roller war einer der Väter der Stenografie.

 

Der Schriftputzer. Teil 2*

Der Schriftputzer meiner Großmutter (1903-1983) dient jetzt der TippStelle von Frank Osthoff, Köln. https://biskuitrollerückwärts.de/

*Teil 1 ist am 6. Februar 2020 im NotizBlog erschienen.

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Der Schriftputzer. Teil 1

Meine Großmutter konnte Schönschrift. Nach ’45 entdeckte sie eine Marktlücke, schrieb – wie gedruckt – Erbauliches auf harte Pappen und klebte Schlaufen auf die Rückseite. So brachte sie sich und die beiden Kleinen durch.
Maschineschreiben konnte sie auch. Für’s Kontor und für die Leute, wenn jemand mal was getippt haben wollte.
Als ich endlich an ihre Schreibmaschine durfte, hat sie gesagt: „Besser gleich mit zehn Fingern!“ Irgendwann ging es. Ihre „Erika“ schrieb immer sauber, es gab keine verrutschten oder schmutzverklebten Buchstaben. Das war eben so bei meiner Großmutter.
Jetzt weiß ich auch, warum! Die Reinigungsknetmasse „Schriftputzer“ für siebzig Pfennige lag noch bei ihren Sachen. Langsam wird das rotbraune Stück warm in meiner Hand. Wie man es richtig auf die Typen legt, um diese vom Farbschmutz zu befreien, steht in der Beschreibung. Der geknitterte Zettel, der seit Jahrzehnten um die Knete gewickelt war, fühlt sich inzwischen wie Ölpapier an.

Ich habe heute wieder etwas von meiner Großmutter gelernt, fast vierzig Jahre nach ihrem Tod.

Abfall

„Das sollt ihr doch nicht“, schimpft die Frau aus der Hagenower, „das ist Wurstpelle! Die kriegt ihr im Leben nicht verdaut.“ Dass sie mal ein Bauernhofkind war, ist noch herauszuhören.
„Ich komm jetzt mit dem Stock. Geht ja nicht anders. Wenn die Möwen sowas herschleppen?“
Sie stochert zwischen den Platschfüßchen nach der Pelle, aber da findet sich kein Loch zum Festmachen.
Viel länger als der Stock ist der ausgewachsene Schwanenhals. Und jetzt nähert sich schon der fauchende Schnabel.
„Du bist ja wie unser alter Ganter!“, staunt die Frau und richtet sich langsam auf.
„Ein Ganter ersetzt den Hofhund“, lacht sie dann und macht sich ganz groß.
Alle machen sich groß.

Und plötzlich hat die Frau die Pelle doch noch erwischt.

Kleines Fest im großen Park. Bei Benno und Max

An der Grotte traut sich niemand freiwillig auf die Bühne. Benno und Max sind World Champions unter den Jongleuren. Jeder Gast kann da als Dritter nur alt aussehen, egal, womit jongliert wird. Also lieber auf die Schuhspitzen gucken und unsichtbar bleiben, um nicht nach vorn gerufen zu werden!
Eine Dame aus der ersten Reihe wird dennoch auserkoren. Schon steht sie für eine challenge zwischen Benno und Max. Es geht um knackige Äpfel. Wer ist schneller beim Verschlingen? Die Frau bekommt einen Apfel, Max drei. Die Frau soll nur drauflos futtern, Max aber jonglieren! Und dabei muss er das fliegende Obst verspeisen.
Der countdown läuft.
Start.
Eine Minute haben sie Zeit.
Die Frau beißt viel zu groß ab, es gibt kein Zurück, sie kaut tapfer.
Bei Max spritzt es. Die Äpfel kreisen, in jeder blitzschnellen Runde lässt das Obst Federn oder Fruchtfleisch oder wasweißich. Es ist nicht zu erkennen, wie Max kaut und wie er schluckt und wie er atmet und wie er wirft. Aber die rotierenden Äpfel werden allmählich zu kantigen, feuchten Griebschen. Benno feuert an. Noch zehn – fünf – drei Sekunden. Stopp!

Sie sind Kavaliere: Die Frau hat gewonnen. Während auf der Bühne inzwischen glitzernde Diabolos hin und her schwingen, kaut sie in der ersten Reihe noch lange an ihrer Apfelmahlzeit.

https://bennoundmax.de/

 

Und täglich grüßt das Murmeltier. Morgens

Auf dem Weg treffe ich immer dieselben Menschen. Meist sogar in der gleichen Reihenfolge. Zunächst kommt mir an der Chaussee auf ihrem roten Fahrrad die kleine Blonde entgegen, die es jedes Mal schafft, zuerst zu grüßen und dabei ein kleines Glücksgefühl entfacht, weil die kurze Begegnung verlässlich durchwärmt. Nie haben wir Zeit für einen Satz mehr.
Momente später treffe ich unten am See den Lässigen, der freihändig, mit durchgedrücktem Rücken in die Pedale tritt. Er sieht nicht mal hoch von seinem Smartphone. Nie – an dieser Stelle.
Am kleinen Trampelpfad, der zum Wäldchen hinaufführt, muss ich meist absteigen. Die Schülerin mit den fetten Kopfhörern hat kein Ohr für mein Klingeln. Jeden Morgen bin ich eine Überraschung für sie.

Nachmittags ist alles anders.

 

Die Jacke von B. – R.I.P.

Dass sich die derbe Herren-Lederjacke so eng zusammenfalten ließ! Sicher, sie ist eingesunken und stumpf geworden und sieht fast nicht mehr echt aus, eher wie eine kunstvolle Sandskulptur. Doch der Druckknopf am Stehkragen und die breiten Reißverschlüsse an den Brusttaschen sind noch sehr real, auch das Futter, das durch eine aufgerissene Seitennaht gedrungen ist. Das grünfeuchte Leder unter der Staubschicht mag einst kaffeebraun gewesen sein.
Irgendwann wird man sich fragen, was da wohl liegt auf dem Grab von B.
Er ist vor dreizehn Jahren gestorben.

Florian Michel

Mittsommerabend in Manchester. Der Pub ist gut besucht. Neben mir wird etwas Großes auf der ledergepolsterten Sitzbank abgeladen. Nein, ich schaue da jetzt nicht hin. Ich hab meinen eigenen Tisch, meinen Drink, meinen Burger und meine Begleitung. „Cheers!“
Irgendwann geht mein Blick dann doch nach links. Da posiert ein metallener Recke auf seinem Sockel und spielt mit den Muskeln, als wäre er ein kleines Denkmal. Oder eine Trophäe. Ich denke an Flohmarkt und Staubwedel. Sowas hätte ich nie irgendwo mitgenommen.
Der Besitzer und seine Begleiterin flüstern. Auf Deutsch.
Ich gucke beide und das Kerlchen jetzt unverhohlen an. Neugierig bin ich ja doch!
„Ist der echt?“ Wie dumm gefragt von mir!
„Na klar“, freut sich der Besitzer. „Ich bin gerade Worldchampion im Natural Bodybuilding geworden.“
So sieht er gar nicht aus in seinem Hoodie. Aber seine Haut ist noch sonnenbraun geschminkt, auch seine Hände.
Was das Besondere am Natural Bodybuilding ist, erklärt er mir ganz genau.  Er nimmt keine unterstützenden Medikamente.
Wahnsinn!
Dann will ich noch wissen, wie er heißt.
„Ich bin der Flo.“

 

Kaum zu glauben

Man stelle sich vor:
Die Zahnprothese liegt in ihrer Dose.
Die Dose liegt auf der Waschmaschine.
Die Waschmaschine schleudert.
Sie schüttelt sich sogar. Ein wenig.
Die Dose fällt herunter und öffnet sich.
Der Hund kommt.
Er knackt die Prothese und verschlingt sie.
Die Frau kann’s nicht fassen.
Sie wartet.
Es gibt einen natürlichen Weg.
Einmal durch den Hund hindurch.
Das dauert.
Dann tauchen die Reste der Prothese wieder auf.

Alle weiteren Details sind in der Ostseezeitung nachlesbar.

Die Petersens. Ein Geschwister-Konzert

Ein Vater hatte zwei Töchter. Und vier Söhne auch.
Er war bekannt in der Stadt. Ließ er doch als Kantor den Domchor zu einem Refugium für Unangepasste werden. Kirchenliedersingen war auch ein bisschen Rebellion zu DDR-Zeiten.
Seine Kinder lernten früh Klavier, Geige, Cello, Horn und Fagott. Im Saal der Bezirksmusikschule spielten sie im Schülerorchester.
Heute konzertieren sie auf den großen Bühnen der Welt.

Auf dem Grab des Vaters, des Landeskirchenmusikdirektors a. D., überragt eine Orgelpfeife den Stein.
Fast gibt es für die Töchter und Söhne keinen Grund mehr, in die Heimatstadt zu fahren. Nun aber doch. Für ein Geschwister-Konzert.
Bei der Generalprobe mit dem Erwachsenenorchester der Musikschule platzt der alte Saal aus allen Nähten. Auch Emotionen können raumgreifend sein. Und Erinnerungen. Irgendwie ist selbst der Vater präsent.
Beim großen Konzert am Tag darauf – erst recht.

 

Das Geheimnis

Es gibt Geheimnisse, die irgendwann flügge werden. Und es gibt Vertraulichkeiten, die unverrückbar sind. Grete und Tilda waren einander vertraut gewesen, nach der Wende ganz besonders. Tilda fühlte sich immer besser, wenn sie sich mit Grete ausgetauscht hatte, und sie spürte deutlich, dass es sich bei der Freundin ebenso verhielt. Jahrelang. Ehemänner, andere Männer, Kinder, Katzentod – es ging immer um alles. Alle zwei Wochen meistens.
Dann sagte Grete ab, nahm kein Telefonat mehr an, reagierte nicht mehr auf Post. Einfach so. Ein einziges Mal schrieb sie noch, dass Tilda sich nicht mehr bemühen sollte. Sie sei jetzt in einem anderen Leben.
Seltsam.
Tilda hat nie erfahren, was in Gretes neuem Leben wirklich anders war. Außer dass sie nicht mehr darin vorkommen sollte. Weil sie aber wusste, wie verlässlich Grete in allem war, zog sie einen zittrigen Schlussstrich. Vielleicht würde das Geheimnis, das Grete um ihr neues Leben machte, doch noch irgendwann flügge werden.