Von der Angst nicht abgehärmt. NICHT ABGEHÄRMT!

Gitta hat NO WAR auf ihre Maske geschrieben.
Sie kann nicht schlafen, weil auch sie einen erwachsenen Sohn hat.
Und eine Tochter.
Welch großes Glück!
Als 13-Jährige hat sie sich in den Schlaf geweint. Die Neutronenbombe, der NATO-Doppelbeschluss und die SS-20-Raketen jagten ihr höllische Angst ein. Vom seidenen Faden war die Rede: Vielleicht würde alles ganz schnell gehen, und sie käme nicht einmal dazu, die Gasmaske überzustülpen.
Sie wäre ungeküsst geblieben.

Wie ähnlich wir uns waren!
Wenn dieses Schulchor-Lied gesungen wurde, fürchtete ich immer, es wäre alles längst zu spät.

 https://www.youtube.com/watch?v=xuqrMhE2KOM

Der einfache Friede

Wenn ein Gras wächst, wo nah ein Haus steht,
und vom Schornstein steigt der Rauch,
soll’n die Leute beieinander sitzen,
vor sich Brot und Ruhe auch,
und Ruhe auch.

Das ist der einfache Frieden,
den schätze nicht gering.
Es ist um den einfachen Frieden
seit Tausenden von Jahren
ein beschwerlich Ding.

Wo ein Mann ist, soll eine Frau sein,
dass da eins das andre wärmt,
soll’n sich lieben und soll’n sich streiten,
von der Angst nicht abgehärmt,
nicht abgehärmt. […]

Lwiw 2019

Der kleine Flohmarkt hatte etwas Anziehendes. Abzeichen, Groschenhefte, ukrainische Fähnchen und allerlei Schnickschnack lagen sortiert in der Sonne. Doch der Händler ließ die Gelegenheiten, seine Dinge unter die Leute zu bringen, verstreichen.
Er las.
Es war Frieden.

Der Verjüngungstrick

Bogoljub Karić, ein serbischer Oligarch, ist achtundsechzig geworden und will sich damit nicht abfinden.
Er fühle sich längst nicht so alt, steht in unserer Zeitung.
Bereits vor drei Jahren hatte Karić eine amtliche Verjüngung beantragt. Sein Geburtsjahr (1954) sollte in allen Papieren um zwanzig Jahre verschoben werden!

Ich schicke den Zeitungsartikel einem Freund, der in Serbien wohnt. Dazu ein Fragezeichen. Seine lakonische Antwort:
In Serbia everything is possible.

 

 

 

Zum Verbleib von Busfahrscheinen und kleinen Dingen. Ein Alltagsrätsel

Früher hingen halbrunde Drahtkörbe an den Stangen für das Haltestellen-Schild. Heute sollen die abgestempelten Fahrscheine durch eine viereckige Öffnung in einen aschenbechergroßen Metallbehälter gesteckt werden. Das geht nicht einfach im Vorbeigehen, da muss man stehenbleiben und das in der Hand verschwitzte oder während der Fahrt gedankenlos um einen Finger gerollte Ticket durch diesen Einwurf-Schlitz bugsieren. Ist versehentlich ein Geldschein mitgerutscht, gibt es kein Zurück.
Wie wird dieser Behälter aber geleert, nachdem die kippbaren Drahtkörbe ausgedient haben? Ich dachte, ich würde es nie erfahren.
Doch sah ich kürzlich ein winziges Gefährt, das eher nach einem vierrädrigen Schränkchen mit Fahrerkabine aussah, an einer Haltestelle stoppen. Ein Mann in signalfarbener Latzhose sprang heraus, zückte vor dem Fahrscheinkästchen einen Schlüssel und ließ den Inhalt in einen Eimer fallen, Klappe zu, Eimer im Schränkchen geleert, wieder eingestiegen, weiter.
Nach Geldscheinen hat er gar nicht geguckt.

 

 

Eine Straßenszene

Null Grad. Sieben Frauen meditieren auf dünnen Decken im Lotussitz. Hochkonzentriert und doch tief in ihr Inneres versunken, mit einer Körperspannung, der Kälte, Straßenbahngeräusche und Passantengeplauder nichts anhaben können.
Sie sind ganz bei sich.
Vielleicht in einer anderen Welt. Oder eben gerade nicht.
Loslassen können, das sagt sich so leicht. Die Frauen tun es einfach. Entrückt, reduziert und konzentriert scheinen sie stärker zu sein als alles auf der Welt.
Das ist nur ein Eindruck, daher klärt ein Transparent in der Nähe auf. Die Übungen, die enorme Anziehungskraft der Idee und deren brutalste Verfolgung weit ab vom heimischen Straßenpflaster sind hier mit wenigen Worten und eindringlichen Fotos skizziert. Wahrhaftigkeit. Güte. Nachsicht. Sind das nicht archaische Werte, die etwas Rettendes in sich tragen? Mehr als nur für die Gesunderhaltung des Einzelnen?
Ein Mann kommt des Weges, stützt sich auf seinen Stock und sagt, dass er jetzt 91 sei und dass die Welt sowieso untergehe.

Und nun?

Bockspringen

Die anderen Kinder konnten das alle. Wir waren neu an der Schule und hatten es nie gelernt.
Anlaufen – Abstützen – Abspringen!
Hinter dem Bock lag eine Matte.
Das sah so leicht aus. Ich aber guckte lieber zu, als dass ich mich hinüberbemühte. Meiner Schwester ging es ähnlich.
Irgendwann gab es eine Leistungskontrolle.
Ich rannte dem vierbeinigen Braunen entgegen, trat auf das Sprungbrett und hoffte auf ein Wunder.
Immerhin konnte ich den Kopfsprung. Sogar vom Ein-Meter-Brett! Vielleicht segelte ich deshalb bäuchlings über das Leder, knickte ab und purzelte auf die Matte. Hauptsache, ich war angekommen.
Dann war meine Schwester an der Reihe. Sie nahm das Vieh fest ins Visier, gab Gas, erreichte den Bock, setzte die Hände auf und sprang mit der Wucht einer entfesselten Zehnjährigen in andere Sphären. Wie ein Geschoss flog sie ihre Bahn, hoch über dem Leder und ein Stück über die Matte hinaus.
Seitdem galt bei uns: Der Wille macht’s!

Der Silvesterkarpfen

 

Sie:        Ich hätte früher nie gedacht, dass ich mal den Kopf essen würde. Aber seit Oma nicht mehr ist …
Er:          Das sagst du jedes Jahr.
Sie:        Wo hat so ein Karpfen nur die vielen Gräten her?
Er:          Das ist evolutionsbiologisch …
Sie:        Weißt du noch, was der Rainer erzählt hat?
Er:          Dass er eine Gräte im Hals hatte?
Sie:        Und was für eine! Die musste ihm doch rausgeschnitten werden!
Er:          Schlimm.  Auch das Warten in der Notaufnahme!
Sie:        Sowas lieber nicht.
Er:          Geb’s Gott!
Sie:        Guck! Da ist das Knöchelchen fürs Portmonee.
Er:          Dann musst du die alten alle mal aussortieren.
Sie:        Damit das Geld nie ausgeht. Prost!
Er:          Prost Neujahr!

Wartezeit

Ein Positiver in der Nähe
genügt
für sieben Tage Warte-Zwang
in quälendem Abstand.
Sieben Tage, in denen
eine kleine Welt erstarrt,
weil behutsames Miteinander-Sein
gerade jetzt das Wichtigste gewesen wäre.
Aber so lehrt es die Vernunft:
Es hätte schlimmer kommen können.

Frohe Weihnachten!

Vermächtnis

Verliebt.
Verlobt.
Verheiratet.
Ein Sohn.
Vermasselt.
Geschieden.
Verschanzt.
Fast versauert.
Neu verliebt.
Vergnügt
verschmolzen.
Verplaudert.
Verschätzt im
verminten Gelände.
Verglüht, irgendwann.

Verblieben – der Sohn:
Verliebt …

Karin (1939-2021). Ein Nachruf

Wie gut, dass du dich immer erinnern konntest. Und dass es dir eine Freude war zu erzählen. Manchmal fürchtete ich gar, zu viel zu fragen. Oder zu heikel. Doch dann hast du schelmisch gelacht, klare Worte gesucht und mit tiefer Stimme jeder Silbe einen Akzent gegeben. Es wurde dir nicht über.
Das ganze Leben konnte wiederauferstehen, auch das alte Labor. Lebensmittelkontrolle im Bezirkshygieneinstitut. Was habt ihr da nicht alles auf den Tisch bekommen! Kleine Happen, winzige Proben, Löffelchen voll mit irgendwas und Getränke natürlich. Sehen, riechen, schmecken und geschickt hantieren mit dem siebenten Sinn. Wie gut du gerade das gekonnt hast! Mit allen Wassern warst du gewaschen.
Und der Rauch? Der hat sich schließlich gelegt. Er fehlte dir dann nicht einmal mehr.
Wie stark, habe ich gedacht. Und es auch gesagt.
Vieles jedoch brauchte gar keine Worte.