Der Geiger

Er beugt sich über die Noten. Ein Quartett von Haydn. Seit er seinen Ohren nicht mehr traut, zelebriert er Kammermusik blätternd und nicht mehr am Instrument. Mit 92 Jahren ist das nun mal so. Auch bei einem Berufsmusiker. Er hat trotzdem seine Freude an den typischen Neckereien der Komposition, atmet in den Auftakt hinein und trommelt den Rhythmus auf dem Unterarm. Sein kleiner Finger gehorcht manchmal nicht auf der Saite, der will immer extra vorbereitet werden, dieser Schelm! Das hat der Geiger ihm inzwischen verziehen. Täglich spielt er Solo-Suiten, ganz allein, damit die Finger in Bewegung bleiben.
Musik ist sein Leben.

Gestricktes

Meine Großmutter hatte einst einen Ordner angelegt für ihre Zeugnisse, wichtige Briefe und Rechnungen.
Von A bis Z.
Von 1923 bis 1948.
Privat steht auf dem Etikett.
Ganz gerade liegen die Dokumente nicht aufeinander. Irgendetwas ist noch dazwischengetüdelt.
Etwas Kleines – – – Gestricktes:

Meine Mutter ist also sehr früh mit Nadeln und Wolle vertraut gemacht worden.

 

Auf Reisen

Gusseisen hat immer etwas Archaisches.
Hier ist es so behutsam gestrichen, dass die Ornamente noch ihre Geschichten erzählen können.
Zum ersten Mal habe ich an diesem Ort ein wenig Zeit, schaue hinauf in das Gebälk und entdecke am Kapitell genau dort Gesichter, wo sonst mitunter Videokameras angeschraubt sind.
Vielleicht braucht es die hier nicht, weil die Putten alles im Blick haben?

Wo sind wir?
Ein Heimaträtsel.

Schöne Augen

Abseits aller trüben Launen
einte wohl das pure Staunen
alle Vogel-Exponate,
als das letzte Stündlein nahte.

Zwergohreul‘ und Eichelhäher
fühlen wir uns gleich viel näher.
Doch Wahrheit spielt hier mit Ästhetik –
sind hübsche Äuglein wirklich nötig?

Najaaa …

Wie mancher wohl zusammenzuckt,
wenn solch ein Vogel doch nicht guckt?
Ein Präparator mit Geschick
hat den Betrachter auch im Blick.

Fotos: Vogelpräparate aus dem Museo Mandralisca in Cefalù

Eine Pizzeria in Palermo

Ein plötzlich einsetzender Wolkenbruch bringt alles durcheinander auf der Terrasse der Pizzeria. Die Papierdecken auf den unbeschirmten Tischen stehen sofort im Wasser. Ein Kellner springt von einem Serviettenhalter zum nächsten und türmt die klatschnassen Boxen auf sein Tablett.
Die Pasta – unter einem Schirm – war großartig.
Ich lege mein Besteck in die „Fertig!“-Position.
Die Kasse sei drinnen.
Ein paar Münzen liegen da einfach so rum.
Ach nein, sie klimpern gar nicht.

 

Anke und die Mucki-Bude

Anke spürt die Muskulatur ihrer Oberarme. Einfach so im Pulloverärmel. Auch ohne etwas zu tun. Das kommt vom Sport! Seit ein paar Monaten rackert sie sich im Fitnessstudio an den Geräten ab. Viele Sportsfreunde fangen zum Jahresbeginn an und kommen nach dem ersten Urlaub nicht wieder. So eine ist Anke nicht. Wenn, dann richtig. Sie ist schon ein alter Hase hier, hat Routine im Zirkeltraining und hört manchmal zu, wenn die Kursleiterin Neulingen die Trainingsprofile vorstellt. Dann macht Anke eine gute Figur, zieht richtig durch und genießt die Blicke und Kommentare im Rücken. Alle haben nur Vornamen.„Anke macht hier das Einsteigerprogramm“, erklärt die Trainerin heute einem Fremden.

Einsteiger? Mit diesen fortgeschrittenen Oberarmen?
Anke lässt sich nichts anmerken.
Ihre Zeit wird schon noch kommen.

Anfang Mai

Unsere Eltern haben nie eine Fahne herausgehängt.
Das fiel auf. Vor allem uns.
Wir zehnjährigen Schwestern wollten lieber nicht auffallen.
Aber wir wussten nicht, wo wir eine Fahne herbekommen sollten. Im Haus gab es weder eine rote noch eine mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz.
Und an der Fassade waren keine Fahnenstangenhalter.
Da mussten wir eben stark sein. In der Schule und bei den Leuten. Falls jemand gefragt hätte, warum wir keine Fahne haben.
Es hat nie jemand gefragt.
Nach ein paar Tagen waren die Häuser auch wieder kahl. Bis zum 7. Oktober, dem „Tag der Republik“.

Mit elf oder zwölf war es uns dann egal.

 

In Eile

Vermutlich ist es nicht ausdrücklich verboten, sich während des Fahrradfahrens die Brille zu putzen. Die Liste der unerlaubten Handlungen würde sonst zu lang werden. Und manchmal ist eben ganz plötzlich ein Glas verschmiert und man muss trotzdem unbedingt weiterfahren.
Natürlich bleibt die Brille auf der Nase, weil Bügel und Helmriemen immer in einem verzurrten Nebeneinander feststecken.  Im Anorak ist ein Taschentuch rasch gefunden und herausgefingert, ohne dass das Schlüsselbund dabei verloren geht. Und jetzt wird so lange das Glas gerieben bis die Sicht wieder klar ist. Welch eine wohltuende Prozedur. Es geht im Wäldchen bergab zum See hinunter. Leider nimmt der Fahrtwind das Tuch mit. Anhalten! Umdrehen! Die paar Schritte wieder bergauf schieben und das Stück Zellstoff aufheben! Doch da sprengt ein riesiger Schäferhund heran …

Der läuft zum Glück vorbei, will nur die Enten jagen. Das ist jetzt ganz deutlich zu sehen.

Neues vom Schriftputzer*

Es handelt sich bekanntlich um ein Utensil meiner Großmutter.
Nach vier Jahrzehnten auf dem Dachboden war es, eingewickelt in seine Gebrauchsanweisung, plötzlich aufgetaucht – völlig nutzlos für mich und dennoch mit einer gewissen Aura gesegnet. Meine Großmutter war Lehrerin im Maschineschreiben gewesen.
Wohin mit dieser „Reinigungsknetmasse“?
Es dauerte noch drei Jahre, bis ich Frank Osthoff mit der alten Schreibmaschine Gabriele an seiner mobilen TippStelle traf. Schlaue Sätze und Verse hat er getippt und getippt und getippt. Ja, er freute sich über den Schriftputzer, vielleicht weil auch er ein Nostalgiker ist und man solchen Kram dann aufhebt. Einfach so.

Jetzt aber wurde es in der TippStelle Zeit für einen Frühjahrsputz. Frank erinnerte sich an die Spezialknete meiner Großmutter, las die Gebrauchsanweisung und legte los.
Was für ein glücklicher Tag für Gabriele!

*Siehe: Minutentexte vom 6.2.2020 und vom 26.8.2023

Nach Ostern

Freudestrahlend drängt die Sonne zwischen den Bäumen hindurch. Alles will sie mit Farben beleben, so heißt es.
Doch ein Freund ist gestorben.
Diese Kunde erschöpft alle Sinne und bedeckt die Welt mit einem grauen Schleier.
Wie zäh der doch ist.
Und wie gut auch.
Weil es jetzt Stille braucht zum Innehalten.