Mehrere Eiszeiten streifen ihren Rücken und zerbröckeln an den Oberarmen. Ihre Stirn wird in die Breite gezerrt, damit sich noch mehr Boxfäuste hinterm First austoben können, während scharfkantige Steinchen am Kehlkopf entlang rutschen und sich bei jedem Niesen neu sortieren.
Manchmal kommt jemand und bringt Ingwer-Sud, einen kalten Umschlag oder die Post. Sie will aber nichts. Ihre Welt ist auf die Größe eines Bettlakens geschrumpft.
Da sagt jemand: „In ein paar Tagen ist alles wieder gut.“
Ein Sonntagnachmittag
Im klaren Wintersonnenschein
frieren schnell die Worte ein.
So denkt der Gast der Scrabble-Runde
und klingelt zur besagten Stunde.
Noch ist die Brille ganz beschlagen,
doch wird schon Tee zum Tisch getragen.
Die Sonntagnachmittagsrivalen
frönen ihren Ritualen.
Zwei Spieler sind – wer schafft das schon –
seit dreißig Wintern in Pension,
blitzgescheit und wesensgleich
im wöchentlichen Wortspielstreich.
Die grünen Bänkchen sind bereit,
man lässt sich mit dem Säckchen Zeit
bei der Wahl der Holzquadrate,
den Duden zieht man nicht zu Rate.
Den Punktwert hat man stets im Blick,
doppelt, dreifach mit Geschick –
und wird dabei ein Wort erfunden,
ist man an Regeln streng gebunden.
Ist dann das Säckchen wirklich leer,
gibt auch manch‘ Kürzel nichts mehr her,
dann staunt man kurz, doch sagt nicht viel,
denn nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
ksh
Ellinor (1936-2024)
Sie hat Romane, Geschichten, das Nachdenken und die Lieder geliebt. Wie sollte sie sich nun in einem Pflegeheim einleben? (Mit Whats-App-Nachrichten nach draußen zum Beispiel):
– Hab ein klitzekleines Zimmer. Da passt kein einziges Buch rein!
– Wenn deine Hände frei sind, passt dort genau ein Buch rein. Das lässt sich austauschen.
– Stimmt.
Der Wälzer, den sie sich dann vornahm, war wie ein Ziegelstein in ihrem Bett. Zwei Tage vor dem Jahreswechsel sah ich, dass er ihr zu schwer geworden war. Aber zuhören konnte sie noch, staunen, schmunzeln, ganz fest beide Daumen drücken und winken zum Schluss.
Den nächsten Morgen hat sie nicht mehr erlebt.
Wieder standen wir an ihrem Bett. Sie sah entspannt aus wie am Abend zuvor, eine Amaryllis in den verschränkten Händen.
Ellinor ist gegangen.
(ELSA* bleibt mir).
*Interzonenjahre, 2020.
Die Welt im Kleinen
Er will noch schnell die Kerzen am Baum anzünden, ehe die Gäste kommen. Ein letztes Mal vielleicht vor dem Abschmücken.
Aus Gewohnheit schüttelt er zunächst die Streichholzschachtel, weil man ja hören kann, was noch in der Lade ist.
Das erste Streichholz versagt schon beim Schaben an der Reibefläche, obwohl es dort einen breiten Strich hinterlässt. Er zieht es schwungvoll zurück und sieht das rote Köpfchen bröckeln. Das zweite bricht ab und hat dennoch Feuer gefangen, sozusagen am seidenen Faden. Schnell auspusten.
Es klingelt. Die Gäste. Da sind sie.
Beim dritten wird er nun hektisch. Es zündet nicht. Ausschuss.
Das vierte will auch nicht. Früher hatte er sogar den Ehrgeiz, alle zwölf Kerzen mit einem Hölzchen zu erreichen.
„Oh, wie romantisch“, staunt einer der Gäste und wandert mit seinem Feuerzeug von Docht zu Docht.
Erledigt.
Die abgebrannten und verhinderten Hölzchenreste landen beim Hausherrn immer in dem kleinen Keramik-Pantoffel, weil es eine Unart ist, sie in die Schachtel zurückzustecken.
Ein platter Zufall
Der erste Weihnachtsmann ihres Lebens hatte keine Augen. Ein bizarrer Anblick für eine Fünfjährige. Sie fragte sich, wie der überhaupt in die Stube gefunden hatte. Und dann versicherte er ihr noch, sie das ganze Jahr im Blick gehabt zu haben. Wie denn? Etwa durch die Löcher, die in sein Gesicht aus zerknitterter Pappe geschnitten waren? Dahinter sah sie nur schwarze Luft. Falls es so etwas gab.
Wer wusste das schon.
Seine Hände aber waren zweifellos echt. Seltsam: Er trug sogar einen Ehering.
Und er hatte den gleichen platten Daumennagel wie Onkel Günti.
Sie entspannte sich. Wenn der so war wie Onkel Günti, dann hatte er gar nicht die Zeit, sie immer im Blick zu haben.
Welch ein Glück.
Sieben Leben …, so sagt man
Die Nachbarskatze hatte einen Unfall und musste operiert werden. Mit der Halskrause sieht sie wie eine Diva aus, obwohl sie auf ihrer Hausdecke gegen die ungewohnte Schlagseite gerade nicht ankommt. Nur mit aufwändiger Vorbereitung schafft sie es auf die Vorderbeine. Der rasierte Schenkelstumpf, an dessen Nahtfäden sie nicht kratzen darf, ist ihr manchmal noch im Weg. Beim Drehen immer diese Unwucht!
Doch Gewöhnung ist alles. Es wird Gras über die Sache wachsen. Genauer: Fell.
Und die Katze wird dreibeinig unterwegs sein.
Sechs Leben hat sie noch vor sich.
Der Nikolaus
Was am Öffnen einer Erdnuss so besonders sein soll?
Na – die Gelegenheit, dem Nikolaus zu begegnen!
Liegt dann nämlich der nussige Kern halbiert in seiner Schale, springt er (fast) sofort ins Auge. Der Nusskörper selbst ist der umhüllende Mantel, und das winzige Etwas am oberen Rand zeigt das Altherren-Gesicht mit dem geteilten Bart. Irgendwann sieht man’s. Und dann immer wieder, bei jeder Erdnuss. Ein Leben lang.
In Fribourg (Schweiz), wo der Heilige Nikolaus als Schutzpatron verehrt wird, lernt man diesen besonderen Blick auf … peanuts.
So viel Zeit muss sein
Auch an einem kalten, sehr frühen Novembermorgen, an dem sich das Fußgänger-Ampelrot in den Pfützen spiegelt, rennt die Zeit.
Zwei Erstklässler mit riesigen Schulranzen sind noch nicht ganz wach.
Der Vater des einen Jungen bringt sie zur Straßenbahn und ruft: „Grün!“ und dann: „Die Bahn kommt! Schnell!“ Was für eine Hatz.
Auf der anderen Straßenseite stolpert er fast über seinen Sohn, der einfach stehengeblieben ist, um sich nochmal umzudrehen und beide Arme dem Vater entgegenzustrecken. Einmal drücken noch. Ganz fest.
Der Vater will ihn schon wegschieben, weil doch die Zeit rennt.
Aber der Straßenbahnfahrer wartet.
Frühsport
Ehe sie morgens den Kater begrüßt, macht sie den Hund. Vorher hat sie sich schon im Liegen gedehnt und den Pilatesring traktiert. Der wird zehn Mal gestaucht, auseinandergezogen und zur Beinstreckung in der Schwebe gehalten. Im Laufe der Zeit ist er zum Ei mutiert, so wie übrigens auch der Pezziball, der unter ihr nach Luft japst. Nur die Therabänder halten so lange bis sie reißen. Da gibt es nur ein Davor und ein Danach.
Gut zwanzig Minuten geht das so.
Doch wehe, es öffnet jemand die Zimmertür.
(… doch das Dessert ist köstlich!)
Die Kneipe ist deftig und rustikal, die junge Kellnerin ebenso. Leider sind die Bratkartoffeln versalzen.
„Hier auch alle zufrieden und glücklich?“ Was man so fragt, hat sie drauf.
Wir aber auch: „Der Koch ist verliebt!“
Sie nestelt die Finger unter dem Schürzchen hervor und setzt ihre Fäuste an die Hüften: „Na, hoffentlich! Wir haben letzte Woche geheiratet!“
Speck, Zwiebeln, Kartoffelscheiben, Pfeffer, Salz, … Salz, Salz.
Er liebt sie wirklich.





