Bittkau. Zeitreisen am Zaun

Man guckt sich fest, will den Gesichtern auf dem Foto etwas entlocken, was sie partout nicht preisgeben können, weil die Familie stillhalten musste. Sonst wäre doch das Bild verwackelt!
Vor ihrem bescheidenen Häuschen hatten sich die Bewohner aufgereiht, fünf Kinder sind dabei, die Mädchen in gestärkten Trägerkleidern. Das ist mehr als hundert Jahre her.
Dieses Foto ist festgeschraubt am Maschendrahtzaun, der eine Brache mitten in Bittkau* umschließt. Sonst ist nichts mehr da, was erzählen könnte von dieser Familie.

Im Ort gibt es zwanzig historische Zaun-Fotos hinter Plexiglas. Da stoppt man sein Fahrrad. Immer wieder.

*Bittkau (Altmark/Sachsen-Anhalt) liegt am Elberadweg.

Die Trompetengeige

Im Normalfall klemmt man sich nur seine Violine unters Kinn, streckt den linken Arm auf Geigenhalslänge und lässt die Fingerkuppen auf den Saiten toben, wie es das Herz begehrt oder die Noten vorschreiben. Die rechte Hand streicht dazu mit dem Bogen über die Saiten, legato oder staccato oder sonstwie. Es ist nun mal ein Streichinstrument. Punkt.
Wer aber im Besitz einer Trompetengeige ist, kann sie sich auch vom Hals reißen und andersherum an die Lippen führen, um über das winzige Mundstück an der Schnecke einen Ton zu blasen.
Keine Ahnung, wie das klingt, wie das aussieht, wohin mit dem Bogen – und wie das Instrument in einen Geigenkasten passen soll.
Ein Kuriosum.

Hans Clarin

Diese Stimme! Da sehe ich gleich das Cover der alten Hui-Buh-Schallplatte aus den 70er Jahren vor mir. Das kopflose Schlossgespenst verjagt die Gräfin Etepetete mit seiner rostigen Rasselkette und mit viel Geheule. Und ich saß damals als kleines Mädchen unterm Tisch. Die Decke hing nur so weit herunter, dass das Licht noch reichte für Gruselmomente mit dem Plattencover.
Hans Clarin.
Im Radio habe ich ihn nun wiedergehört – Am Morgen vorgelesen – mit der „Farm der Tiere“ von George Orwell. Obwohl Schwein Quiekschnauz kein Gespenst ist und die Fabel beklemmend aktuell, sehne ich mich plötzlich wohlig nach einer Tasse heißen Kakao ohne Pelle, für die ich damals immer unter dem Tisch hervorkriechen musste wegen der Schweinerei, die niemand riskieren wollte.

Meinem Vater († 29.03.2025)

Als wir das Fortsetzungsheft von den kleinen Geigen-Duetten angeschafft hatten, war ich zehn.
Es war an einem Ferientag.
Zuerst hast du deine große, dann meine kleine Geige gestimmt. Wer hat das letzte Wort? hieß unser Stück. Ich durfte mich gleich an der ersten Stimme versuchen. Die setzte energischer ein. Dich hat gefreut, wie mich das antrieb.
Freche Punktierungen, Pausen, die keine waren, sondern eher kleine Sprungbretter in rhythmische Neckereien, die zeitversetzt erwidert wurden, erst forsch von der großen, dann schmeichelnd von der kleinen Geige.
Bei diesem Stück habe ich Taktgefühl gelernt und auch, wie es klingt, wenn wir uns richtig die Kante geben und irgendwann wiederfinden, bis alles verknotet ist und in Lachtränen erstickt.
Wie später so oft, auch ohne unsere Geigen.

Feldstadt. 17 Uhr

Es nieselt.
Von den Hauswänden hallen starke, reine Töne eines Euphoniums wider. Doch heute steht kein Zuhörer am Zaun des Augustenstifts. Auch hinter der Hecke gibt es kein Publikum.
Jetzt regnet es richtig.
Peter Voss (94) bläst trotzdem. Wie jeden Tag. In der mannshohen Nische unter der Veranda bleibt er sogar trocken dabei.
Und – siehe da – gegenüber, im Raucherpavillon hinter der Stiftsküche, hat eine Gruppe Getreuer es sich gemütlich gemacht. Eng gedrängt auf den Bänken, die Rollatoren zusammengeklappt, lauschen die Eingemummelten im Glashäuschen und lassen den zusätzlichen Rollstuhl noch mit hinein, damit das Mütterchen nicht nass wird.
Manche bewegen die Lippen, weil es doch ihre Lieder sind.
„Das erste Mal hier?“ fragt eine Hochbetagte.
Doch das Mütterchen staunt nur mit großen Augen.
„Ich seh doch fast nichts mehr“, schiebt die Frau entschuldigend hinterher. Und dann: „Eins kommt noch.“
Peter Voss hat sogar noch drei Lieder.
Schließlich – Mendelssohn Bartholdy: Verleih uns Frieden gnädiglich.

Was für ein Appell.

Hofknicksig. Mitten im Weltkulturerbe

Wie aus dem Hut gezaubert gibt es für ein halbes Jahr eine Fotoausstellung* mit großformatigen Schwerin-Ansichten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zur Vernissage stellten sich auch Angehörige des letzten Großherzogs ein. Sie hatten historische Schnappschüsse aus dem Familienleben beigetragen, mussten aber auf Stehplätzen verweilen – so viele Leute waren gekommen.
Kurator Jakob Schwichtenberg drehte an einer Grammophon-Kurbel und schwenkte den Tonarm auf eine hundert Jahre alte Schellackplatte. Marschmusik. Man konnte sich wahrlich versenken. Ein ordentliches Stück zurück, viel mehr noch als ein Jahrhundert. Es passte.
„Das ist mir alles viel zu hofknicksig“, murmelte ein kritischer alter Freund.

So gab es gar noch ein Wort zum Versenken.

*Schwerin, Puschkinstraße 61/65

Erster sein!

Manchmal braucht man flinke Füße oder die Motivation eines frühen Vogels.
An der Theatergarderobe nach der Vorstellung zum Beispiel, beim Wettrennen oder wenn man sich etwas aussuchen darf.
Meist kann man sich ja Zeit lassen.
Aber wenn’s nun mal kribbelt …?

 

Bauerntöchter

Die kluge Bauerntochter in meinem Märchenbuch hat mich immer an Heike erinnert. Heike hatte auch einen so langen, dicken Flechtzopf. Ich mochte sie schon im Kindergarten gern anschauen und genoss dann die fröhliche Spannung in meinen Mundwinkeln, denn es konnte uns nichts passieren, wenn sie da war. Heike lachte einfach jeden Kummer von Herzen weg. Auch, als wir uns im ersten Schulwinter einen Schlitten teilten und am Rodelberg plötzlich weit durch die Luft flogen, so dass mir ernsthaft der Atem wegblieb.  Sie quietschte vor Vergnügen und klopfte mir auf den Rücken. Vor fünfzig Jahren. Dann zogen wir in die Stadt. –

Wie immer freitags strample ich im Fitnessstudio auf dem Ergometer, angefixt von meiner Route entlang den Display-Balken, vier Minuten bergauf noch – da streicht mir jemand über die Schulter.  Ich brauche keine Sekunde, und meine Mundwinkel huschen in die Höhe. Während der Routencursor allmählich bergab sinkt, lachen wir uns in die frühen Siebziger, als würde es noch Momente geben, in denen uns nichts passieren kann.

Ein Ohrenzeugenbericht

„Sowas Dummes. Doch falsch gekauft!
Von wegen Tageslichtweiß.
+ + +   Schepperklirr   + + +
Mist.
Ach. Ist sogar heilgeblieben.
Passt aber nicht.
Guckt raus.
Oder so?
Na los. Noch ein Stück.
Geht doch!

Hey, ich habe eine neue LED-Birne gekauft. Die ist zwar zu groß, aber das ist egal!“