Nach der Lesung

„Nichts hat sich genau so zugetragen“, merke ich zum Schluss an, „in F. ist nie Fundmunition explodiert.“ Das meine ich zu wissen, denn keinen Ort kenne ich so gut wie F.. Und da Georg im Publikum sitzt, der schon sein ganzes Leben dort wohnt, fühle ich mich verpflichtet, dies klarzustellen.
Später, am Büchertisch, beugt sich Georg zu mir herunter.
„In F. hat es doch einen Granaten-Unfall gegeben! Der Hausmeister von der Schule hat so ein Ding gefunden und dran rumgeschraubt. Dabei hat er eine Hand verloren.“
Davon hatte nie jemand erzählt.
„Ja, ’59 oder ’60 ist das passiert.“
Ich sehe die Schule vor mir, den See, das Schilf und einen Mann, dessen Spuren in F. verwischt sind.
Wieder eine Geschichte hinter einer Geschichte* …

*Erhöhte Temperatur in HERZKASPERTHEATER

Fitness am 6. Dezember

Ein gestandener Mann am Boden?
Keine Sorge.
Er macht seine morgendlichen Liegestütze. Die sind gut für die Schultermuskulatur, den unteren Rücken und die Trizepse; das hat er bei Google gelesen. Und auch: Dass der Oberkörper insgesamt definierter aussehen wird.
Ho-ho-ho …

Totensonntag

„Wie geht es Ihnen?“, fragt sie den 94jährigen.
„Altersentsprechend“, erwidert er.
„Möge es so bleiben“, entgegnet sie und glaubt, dass das gut sei.
„Nichts bleibt so. Ich habe neulich einen Freund beerdigt. Nun ist alles anders.“
Sicher ist auch das altersentsprechend, denkt sie und fürchtet sich ein bisschen.

HEINZELMÄNNCHENS WACHPARADE. Zum 30. der Schelfoniker

Jedes Orchester braucht HEINZELMÄNNCHEN als Proben- und Konzerthelferlein. Sie spitzen beflissen Bleistifte, bestreichen Bögen mit Kolophonium, putzen Blech und platzieren manchmal gar Konfektstückchen auf den Pulten. Außerdem schubsen sie den Lampenfieber-Regler und reagieren nur verstimmt, wenn sie sich auf den Schlips getreten fühlen. Regelmäßig vor den Jubiläumskonzert-Proben stehen die Heinzelmännchen als ganze Kompanie vor der Saaltür der Schelfoniker, bitten um Einlass und heben für ihre WACHPARADE den eigenen Taktstock. Dann geht es nämlich gegen den Strich: Humm-da, humm-da, humm-da, humm-da … und – plauz aufs zweite Sechzehntel! – setzen die Geigen ein. Synchron natürlich! Da stauben die Bögen, und es gibt kein Halten mehr. Zwischen den Pulten wuseln die Kerlchen hin und her und dann bringen sie auch noch fünf Halunken zum Einsatz: B, Es, As, Des und Ges. Da gibt’s ordentlich was zu fingern und zu feiern. Erst recht im finalen Fortissimo. Wenn wir eine Pauke hätten, käme es zum Heinzelmännchen-Feuerwerk.

À propos: Spielt jemand Pauke? Für die Heinzelmännchen? Oder für alles, was sonst so auf’s Pult kommt? Wir proben immer montags. Das wird sich in den nächsten 30 Jahren auch nicht ändern.

 

Das unwirkliche Blau

Dieses Mal gehe ich nur wegen der Uecker-Fenster in den Dom.
Wie ein Wasserfall kommt das Blau auf mich zu, zerrissen, schräg und beinahe tosend. Hellblau und Weiß schimmern dazwischen, auch beim zweiten Fenster, das wie aus dem Rahmen gefallen scheint. Ein gotisches Fenster im gotischen Fenster, nur nach links runtergerutscht und so blau, wie man es sich nur vorstellen kann. Und hellblau. Und weiß eher hintergründig, doch wer kann sich da schon sicher sein.
„Das wird ja türkis“, sagt eine Frau neben mir und fingert auf dem Smartphone-Foto.
Bei mir wird alles Hellblaue auch türkis. Ich probiere es immer wieder mit dem Handy, verändere die Einstellungen und vermisse meine Kamera.  Ist das nun ein Trick Günther Ueckers oder ein farbspektrales Phänomen, das mein schlauer, alter Physiklehrer erklären könnte?

Ich höre ihn schon stöhnen: „Ach, Mädel …“

 

Ein Abschied

Wie von Geisterhand geschubst flog die Uhr aus meinem Umkleidespind, als ich in das Dunkel des Wäschefachs gegriffen hatte. Sie landete seitlich auf dem gefliesten Fußboden, und ich dachte zunächst nur: Sieh an, meine Uhr! Im Augenblick des Aufhebens zweifelte ich jedoch an meiner Wahrnehmung. Hatte mir die Sauna zu sehr zugesetzt? Fast alle Zahlen waren von ihren Plätzen auf dem Ziffernblatt gesprungen und tanzten zwischen den Zeigern herum. Ich schüttelte die Uhr vorsichtig – wie früher das Geduldsspiel mit den kleinen Kugeln, die in ihre Löcher kullern sollten. Da rutschten die 9 und die 11, die 3 und fast alle anderen Zahlen unter das Ziffernblatt, verabschiedeten sich gar auf ihrer Kehrseite und suchten sich einen Platz im Uhrwerk.
Schließlich blieb die Zeit stehen …

Tiefbau

Ein Schlund. Nach einem halben Meter knickt die Höhle zur Seite weg, so dass nicht erkennbar ist, wie sich das System von Gängen entfaltet und ob die Dachsfamilie gerade zu Hause ist.
Menschenkinder könnten hineinrutschen, doch kommen die Kleinen nicht auf diesen Hügel. Das schickt sich nicht.
Es ist ein Grab.
Martha und Hugo Berwald – jaja, der Bildhauer – wurden 1937 hier bestattet.
Nun jedoch scheint dieser Ort belebt zu sein.

 

 

Früh im Bus

Sie zieht mit ihrem Trolley viele Blicke auf sich, als sie hastig den Klappsitz ansteuert und sich auf das Polster fallen lässt.
Angekommen! Nicht wegrollen, Tasche!
Sie streift die Schuhe ab, fummelt die Socken von den Füßen, kramt in ihrem Hackenporsche, zieht ein anderes Paar Schuhe hervor und wühlt so lange, bis sie zwei ineinander verknotete Strümpfe gefunden hat. Sie zerrt die Socken auseinander, schlüpft eilig hinein und schiebt ihre Füße in die Schuhe.
Ausatmen.
Rausgucken.
Der Bus ist schon auf der Brücke.
Sie legt den Anorak ab, quält sich aus ihrem Pullover, kramt nach einem anderen, kann sich lange nicht entscheiden und sitzt eine Weile im Unterhemd, bevor sie sich für ein Langarm-Shirt entscheidet. Eine glitzernde Jacke, etwas schäbig, aber noch tauglich, zieht sie drüber. Dann fingert sie ein buntes Haarband hervor, mit dem sie die stumpfen Strähnen zusammendrückt.
In der Fensterscheibe kann sie sich sehen. Sie neigt den Kopf ein wenig.
Der Tag kann beginnen.

Schabbach. Hinter den Kulissen von HEIMAT

Schabbach gibt es nur im Film.
Der Drehort heißt Gehlweiler. Hier können Fans von Edgar Reitz auf Spurensuche gehen.
Ich bin also eingetaucht in die Welt der tiefen Zimmerdecken, unter denen die Sehnsüchte schmerzhafte Kreise ziehen.
Zunächst ist im Ort nichts wiederzuerkennen. Doch hat das Dorf im Hunsrück einen kurvigen Straßenabschnitt mit einer alten Schmiede und ein paar Wohnhäusern, vor denen nun Fototafeln aufgestellt sind. Die modernen Fassaden wurden 2012 für die Drehzeit des Films DIE ANDERE HEIMAT vollständig verkleidet und die Straße zu einer Suhle aufgeschüttet und breitgefahren.
So entstand eine Kolonie benachbarter Höfe mit lehmverputzten Fachwerkhäusern und einem matschigen Fahrweg, über dessen tiefe Spurrillen das Federvieh flattern konnte, als sei man im Jahr 1843.
Vier Monate haben die betroffenen Bewohner Gehlweilers hinter den Potemkinschen Fassaden ihr eigenes Leben irgendwie weitergeführt. Wenn es passte, haben sie mitgespielt.

* DIE ANDERE HEIMAT: Chronik einer Sehnsucht.