Historische Momente

Im Fotogeschäft gibt es einen Räumungsverkauf. Alles muss raus. Wahrscheinlich wird der Laden neu vermietet. An der Hofeinfahrt lehnen edle Paneele mit jeweils zwei gucklochähnlichen Messingringen. Es könnten auch sehr spezielle Schranktüren sein. Aber wozu sollte man durch die hindurchschauen? Und was gab es dann zu sehen?
Die ganze Welt, sagt die Ladeninhaberin!
Doch werde die nun gerade aus dem Haus getragen.
Noch nie hatte ich ein Kaiserpanorama im Original gesehen. Dieses hier hatte einst der Urgroßvater der jetzigen Besitzerin betrieben. Auf zahlreichen historischen Stereofotos, die auf einer Glasplatte Dreidimensionalität suggerieren, lassen sich Skurrilitäten und Szenen aus fernen Ländern präsentieren. Wenn das große Holzrad, auf das die Fotos gesteckt werden, gedreht wird, erleben die Herrschaften vor den Gucklöchern „photoplastische naturwahre Rundreisen“.

Nein, das Kaiserpanorama werde natürlich nicht verramscht. Vorsichtig in Decken gehüllt darf es jetzt eine Weile zerlegt ausharren, bevor es anderswo wieder aufgebaut wird, um Neugierige zu verblüffen.

Die Belohnung

Ein Anruf. Der alte Mann freut sich. Welch sympathische Stimme! Welch charmanter Akzent!
Natürlich hat er eine Minute Zeit. Ha! Die drei Fragen beantwortet er doch mit links!
Das soll es schon gewesen sein?
Ach, er bekommt sogar eine Belohnung? Sechs Hefte gratis. Entweder von der einen oder der anderen oder der dritten Zeitschrift. Er soll sich entscheiden. Also gibt er sich einen Ruck.
Er will die gute Frau ja nicht aufhalten.
Eigentlich braucht er die nicht, aber dann nimmt er eben die Fernsehzeitschrift.
Ja, die Adresse muss er noch sagen. Natürlich.
Warum wird der Ton jetzt kühler, die Stimme streng?
Er hört das Wort Widerrufsbelehrung.
Hat er soeben ein Abonnement abgeschlossen – eines, vor dem ganz alte Leute immer gewarnt werden?
Er hat doch immer behauptet, ihm werde so etwas nicht passieren?!
Ist es aber.

 

 

 

Der Jongleur

Stau an der roten Ampel.
Immer noch ROT.
Auf der winzigen Verkehrsinsel zwischen den Fahrspuren steht ein Mann.
Ein faustgroßer Ball pendelt zwischen Ober- und Unterarm, schwingt sich auf den Handrücken, wechselt zum anderen Arm, kullert, steht, kullert, steht. Er erreicht die Schulter, rollt am Nacken vorbei und taucht vorn wieder auf. Magisch mit dem Körper verbunden, folgt der Ball allen Bewegungen und wechselt geschmeidig in die Gegenrichtung.
GELB.
GRÜN.
Schade.

Über den Tod hinaus. Ein Freundinnen-Geheimnis

Als Micha im Juni 1980 dreißig wurde, legte er Bratwürste auf den Grill und versuchte sich an einem Kartoffelsalat. Seine Mutter mit ihren tollen Salatrezepten war kurz zuvor an Krebs gestorben.  Und Oma, die der kranken Tochter immer gedroht hatte – wehe, wenn du vor mir gehst …! –  war bereits am Ostersonntag friedlich eingeschlafen, aus ihrer Sicht also rechtzeitig, wie Micha fand.
Doch wer sollte nun zum Feiern kommen? Die Kumpels waren noch nie hier gewesen. Also die Nachbarn. Irmgard von nebenan hatte ihm versprochen, ein Geheimnis zu lüften. Das über den Vater wohl. Kein Wort hatte Mutter je über ihn verloren.
Na? Er sah Irmgard neugierig an. Sie probierte erst den Salat. Dann schien sie plötzlich zu spüren, dass ihr das alles nicht zustand. Mit Michas Mutter war sie doch so eng gewesen.
„Du hast doch aber gesagt …“, hakte Micha nach.
Irmgard gab sich einen Ruck: „So viel kann ich wohl verraten: Er war anständig.“

Wie (fast) immer eine wahre Geschichte. 

 

Nachtgeräusche

Ganz still ist es nie.
Irgendwo weitab beginnt immer das Rauschen, als käme es vom Meer.
Dazu passend kreischt plötzlich eine Möwe, recht nah – tatsächlich jedoch unten am See, ein Stück hinter der Bundesstraße, der eine Weile Nachtruhe geschenkt wird.
Der Tierpark-Löwe grunzt. Im Schlaf? Er scheint in Fahrt zu kommen.
Umpf. Umpf. Umpf. Umpf. Sein Gehege liegt einen weiten Nachmittagsspaziergang entfernt.
In der Nacht fühlt sich alles Konkrete nah an.

 

Am Schreibtisch eines Jägers. Um 1900

Carl wird er geheißen haben und Janus sein Lieblingsrüde, der ihm auf den Gütern nicht von der Seite gewichen sein wird. Lud Carl zu Jagdgesellschaften ein, dann auf gedruckten Billetts, die er am Rand mit persönlichen Grüßen aufwertete. Bevor er den Federhalter zurücksteckte in die auf eine Schaufelgeweihplatte montierte Hirschhorn-Garnitur, ließ er den letzten Tintentropfen im struppigen Pinsel aus Wildschweinborsten verschwinden. So hatte alles seine Ordnung.
Auch für den Hund. Einen Moment später.
Janus! Platz!

Sonntags wird gescrabbelt

Herr P. steigt die Stufen in den dritten Stock hinauf und bewundert wieder einmal Frau S., die jeden Tag mehrfach auf dieser Treppe unterwegs ist. Mit 92! So alt ist er auch fast. Aber in seinem Haus gibt es einen Aufzug.
Frau S. erwartet ihn schon. Die blütenweiße Tischdecke ist glattgestrichen, der Glasteller mit den Haferkeksen steht bereit.
Scrabble ist Kult, ein X kein Problem. Selbst ein Y nicht. Französisch, Englisch, Latein – alle Sprachen aus der Schulzeit sind erlaubt. Ein Likörchen auch. Aber nur, wenn dann noch die roten Felder mit dem dreifachen Wortwert im Blick behalten werden, Frau S. kennt da kein Pardon.
Herr P. knabbert einen Keks hinweg und linst durch die Brille.
Gleich kommt sein Coup. Einen hat er sonntags immer.

 

Das Familienfest-Foto

Die Stühle sind vor der Wand aufgereiht. Eine Bank steht bereit für die Jubilare. Die Jugend muss nach hinten.
Hat jeder seinen Platz? Dann aber schnell!
Licht fehlt. In der Dämmerung ist das nun mal so. Und: Besser spät als nie!
Eine Leiter wird geholt und der Schirm der Hängelampe so gekippt, dass sie einen Scheinwerfer ersetzt. Paketklebeband hält ihn für eine Weile fest.
Niemand erinnert sich, wie der Selbstauslöser funktioniert. Fünf Fotos knipsen sich von allein. Schöne Fotos. Lauter fröhliche Gesichter. Aber einer fehlt.
Plötzlich klappt es doch. Zehn – neun – acht – sieben … Gerenne zur Stuhlreihe. Der Onkel ist verdeckt. Gleich …! Jetzt!
Nochmaaal!
Und nochmal!!!
Was für ein Spaß.