Die Frau im Zug

Die Frau im Zug liest Aitmatow. Es ist eine der DDR-Ausgaben mit dem deutlichen A auf dem Leinen. Vielleicht hat sie sie selbst damals gekauft. Nun ist die Frau längst im Rentenalter, wirkt aber drahtig und konzentriert. Je mehr sie versinkt in der Novelle, umso weniger scheint sie der fröhliche Lärm der Punks im Abteil zu erreichen.
Die sitzen genau nebenan auf dem anderen Vierer. Zwei Jungen philosophieren miteinander, wobei der blonde jeden Gedanken mit ein paar Schlucken Bier belohnt und sich ärgert, dass die Sitzbänke keine Klappcouch sind. Der dunkelhaarige ist ein wenig älter und ignoriert das Fingertrommeln auf seinem Schenkel, mit dem sich seine volltätowierte Nachbarin Gehör verschaffen will. Jetzt geht es um Schlafentzug und Gewalt im DDR-Jugendwerkhof.
Plötzlich lesen die Augen der Frau nicht mehr.
„Den haben die kaputt gemacht. So kaputt, dass er jetzt an der Nadel hängt. Heroin. HIV. Das ganze Programm.“
„Die Schweine“, kreischt das Mädchen.
„Davon kenn ich sogar mehrere. Da ist keiner normal raus, das sag ich euch!“
Das Augenpaar der Frau scheint die drei zu scannen. Ihre Stimme dringt aber nicht zu ihnen durch.
„Still mal“, schreit das Mädchen, das den Blick zuerst spürt.
„Waren Sie denn mal da?“, fragt die Frau nochmals.
Gejohle. Abwinken. Niemals!
„Dann können Sie das nicht beurteilen“, sagt die Frau.
Der Dunkelhaarige erhebt sich und deutet mit dem Zeigefinger auf seine Brust. Er arbeite in der Suchthilfe, dort kenne er mehrere, die dort waren. Sie solle ihm nichts erzählen!
„Doch! Ich war nämlich auch da.“
Stille.
„Als Erzieherin“, sagt sie ruhig.
Dann gehöre sie ja auch zu den Verbrechern, lallt der Blonde.
„Ich habe mich um meine Mädchen gekümmert“, flüstert sie.
Die Tätowierte reißt ihre Kinderaugen weit auf und versucht mit beiden Händen die Jungs zu beruhigen. Es gelingt ihr nicht gleich.
Die Frau hätte auch schweigen können. Irgendwann schließt sie das Aitmatow-Buch und schaut nur noch aus dem Fenster.
Da hat sie ihr Spiegelbild.