Die mit dem berühmten Zipfel. Eine Hosengeschichte

Eine Levi’s war das Größte. In den frühen Achtzigern, als es in den „Jugendmode“-Geschäften nicht mal die DDR-Marken BOXER und WISENT einfach so zu kaufen gab, wünschte Bea sich eine Levi’s.
Wenn sie in der Schule einen Knackarsch mit dem berühmten Zipfel an der Gesäßtasche sah, heulte in ihr ein kleines „ich will auch eine“ auf.
Bei Cordi aus der Zwölften sahen alle Hosen wie eine Levi’s aus, dabei waren sie aus gefärbten Bettlaken genäht! Für das winzige Markenzeichen hinten rechts nahm sie irgendwelche Rest-Schnipsel. Und obwohl es niemals orange war und meist auch nichts draufstand, las Bea dort Levi’s.
„Wie schaffst du das, dass die so aussieht wie eine echte?“
„Ich zeig‘ dir’s.“
Cordi hatte eine eigene Nähmaschine, eine alte, komplett aufgetrennte Levi’s und die in Papier darauf zugeschnittenen Muster dazu.
„Du hast die gleiche Größe, Bea, paus‘ sie dir einfach ab.“
Vorderteil. Hinterteil. Hintere Taschen. Taschenbeutel vorn. Hüftpassentasche. Vorderer Bund. Hinterer Bund … und was nicht noch alles.
„Und beim Stecken musst du immer Platz für die Naht lassen.“
„Klar.“ Das wusste sie noch von der Pumphose für den Fasching.
Nähen musste sie dann zu Hause an der alten Singer. Mama hatte noch tolle Stoffe aus Polen, meterweise. Bea gab sich Mühe, doch bis Montag würde sie es wohl nicht schaffen. Also legte sie Sonntagabend noch einen Zahn zu und ließ das Maschinchen rattern, was das Zeug hielt. Doch irgendwas ging schief.

Ihre erste Levi’s kaufte sich Bea ´89 vom Begrüßungsgeld im Second-Hand-Shop, wie der A&V im Westen hieß. Sie saß perfekt.
Aber da war dies schon fast nichts Besonderes mehr.

 

Der Geräuschesammler

Er will immer alles auch hören können, was ihn gerade umgibt – jetzt: den gepflasterten Pfad unter den Schritten, das Kondenswasser, das abtropft, und die Enge, die sich scheinbar endlos hinzieht. Hören. Aufnehmen. Sammeln. Leicht schlurfend strebt er dem Licht zu – jaja, jenem am Ende des Eiertunnels.
Die Bahnstrecke mit mehreren Schienensträngen liegt direkt über ihm, und er wartet mit seinem Aufnahmegerät auf den nächsten Zug. Vor mehr als hundert Jahren soll sich in diesem Tunnel eine Dame fast zu Tode gefürchtet und daher an einen Fremden geklammert haben. Das markerschütternde Stampfen und Schnauben einer Dampflok und das Rumpeln der Waggons wären ein Fest für den Geräuschesammler gewesen.
Kaum der Rede wert ist dagegen der Pegelausschlag an seinem Gerät, als endlich ein gleitendes Etwas über ihn hinwegschnurrt. Er nimmt es nur wahr, weil der Tunnel beidseitig eine Ei-förmige Öffnung hat, durch die heutzutage nur noch Gleis-Laute dringen, die kein Mark mehr erschüttern.
Und auch keine Dame.

 

Die alten Tage

Lore guckt sich sich morgens immer kurz fest in dem schönen alten Männer-Gesicht, dann ist sie schon vorbei mit ihrem Fahrrad. Eine tägliche Sekundenbegegnung.
Wer das wohl ist, denkt sie.
Diese Würde! Aber er ist jedes Mal in Eile, als müsste er sich im Tempo jemandem anpassen.
Seit sie ihn anlächelt, grüßt er.
Der Moment ist immer so schnell vorbei.
„Ich hab Sie gestern vermisst“, ruft sie ihm entgegen, damit es mal ein bisschen anders abläuft.
„Soso.“
„Müssen Sie denn immer irgendwohin oder laufen Sie nur so?“
Als ginge sie das etwas an. 
Er lächelt und überlegt.
„Früher hatte ich einen Hund. Der ist gestorben. Jetzt geh ich allein.“

Eine Woche mit Findus

Nach dem Umblättern des Wochen-Literaturkalenders sprudelt pure Kinderfreude von der Wand.
„Das ist doch der mit der Katze!“, sagt er.
Wie unschwer zu sehen ist – ja, denkt sie. „Der Kater heißt Findus!“
„Aber der ist nicht mit drauf, oder?“
Bei Nordqvists Illustrationen muss man eben genauer und manchmal etwas länger gucken.
„Ach da“, meint er. Dann schaut er sich nach dem eigenen Kater um und flüstert:
„Manchmal fühle ich mich auch wie …“
„Wie Pettersson“, hilft sie ihm weiter.
„Genau! Der Kater macht, was er will, und ich muss immer hinterher.“
Doch auf dem Kalenderblatt streckt sich Findus und krault dem alten Mann den Bart.
Das kann so übel nicht sein.

Zweihundertfünfzig Jahre

Kein Tausch vor dem Supermarkt? Also: Chip gegen Einkaufswagen, den der Vorgänger nicht zurückfahren muss? Obwohl wir uns sogar ein bisschen kennen – vom Sehen und vom Hören? Stefan Fischer ist Musiker.
Fast konspirativ lächelt er mich an.
Er habe eine gewisse Beziehung zu diesem Chip.
Ich signalisiere ihm augenzwinkernd mein tiefes Verständnis für Dinge, die man lieber diskret halten möchte. Könnte ich mir doch selbst einen Einkaufswagen mit meinem eigenen Chip holen.
„Ich kann den ja mal zeigen“, verspricht er, und ich bin ehrlich gespannt.
Also gehen wir gemeinsam von der Fahrrad-Ecke zum Unterstand.
Mit einem Klicken rutscht der Chip-Halter aus der Fassung.
Zuerst erkenne ich gar nichts. Denn es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Metallscheibe, sondern einen gegossenen Talisman, der schwer in der Hand liegt, eine flache Bronzelegierung. Aber was stellt er dar?
Die Ludwigsluster Stadtkirche, eingefasst in einen Ring, damit das Dinglein seine Form bekommt für den Alltag.
Das 250. Kirchenjubiläum konnte nicht gefeiert werden. Das Buch dazu, an dem auch Stefan Fischer mitschrieb, hat es in der Pandemie nicht leicht auf dem Markt. Und alle Konzerte, die er vorbereitet hatte, mussten ausfallen.

Eigentlich ist der Chip viel zu schade zum Einkaufen.

Der Anfang

Gretel hatte noch nie eine Rede gehalten. Aber jetzt, da der Vetter tot war und sein Akkordeon neben dem Sarg stand, spürte sie, dass noch nicht alles gesagt war. Eine Frohnatur sei er gewesen, die zum Tanz aufspielte, bei Familienfesten sogar, daran erinnerten sich alle. Auch daran, dass das Leben immer leichter schien, wenn er in der Nähe war. Selbst in seinen letzten Wochen noch.
Vorn am Rednerpult sah Gretel, dass sie hier wirklich die Letzte war, die von damals erzählen konnte, als der Vetter fast noch ein Kind gewesen war.
Für den Treck standen ab Mittelwalde Viehwaggons bereit. Weil Opa so krank war, musste er in den Quarantäne-Wagen. Das war schlimm. Doch Oma blieb bei den Kindern.
Das Stroh wärmte nicht. Im Rhythmus der Schienenstöße waren Gretel und die anderen immer stiller geworden. Die Traurigkeit lähmte. Irgendwann hielt der Zug an, und die Türen wurden aufgezogen. Der halbwüchsige Vetter griff nach seinem Akkordeon und setzte sich so, dass die Beine über dem Schotterbett baumelten.
Schon die ersten Töne kamen wie aus einer anderen Welt.
Der Vetter hatte sein Leben noch vor sich und spielte, als sollte es gerade in diesen Momenten so richtig losgehen. Mit kaum mehr als einem Akkordeon, den Großeltern und einer kleinen Cousine.

Jetzt gab es nur noch Gretel. Gut, dass sie all das noch wusste.

 

Die Fassade. 1948

Am 23.10.1948 schrieb Hilde an ihre Schwester Cilly:

Euer Bild haben wir erhalten und danken. Eine schöne Familie seid ihr.
Cilly, du musst wieder auf dein Gewicht kommen, denn eine Frau über 30 muss nach was aussehen.

Cilly wird in den Spiegel geschaut und darüber nachgedacht haben. Ja, sie war dünn. In der neuen Heimat nahm sie nun mal nicht zu! Das war doch auch nicht wichtig. Hauptsache, die kleinen Söhne wuchsen heran.
Sie wird ein Schmunzeln probiert und dieses nicht als echt empfunden haben.
Hildchen mit ihren flotten Sprüchen! Wie sollte Cilly denn aussehen? Wie eine, die in den letzten Jahren nicht dabei gewesen war?
Damals, in Gleiwitz, hatte sie manchmal ein Blitzen in ihre Augen gezaubert, einfach aus Freude.
Das ging jetzt nicht mehr so  leicht.
Sie hatte zu viel zu tun, und das Freuen musste sie erst wieder lernen.

 

Zur Stärkung des Selbstbewusstseins

Claudia fand, dass ihr Sohn sich auch mal wehren sollte. Der steckte immer nur ein.
Dabei war sie doch früher genauso gewesen! Ihr Vater hat sie damals, in den Achtzigern, sogar ermuntert, sich nicht alles gefallen zu lassen.
Und dann geriet sie nach der Disko ausgerechnet an Schläger-Karin! Die war sowieso nur gekommen, um Stunk zu machen. Als Claudia und ihre Freundin Melli an der Haltestelle standen, fixierte Schläger-Karin sie schon, begleitet von einer Fremden mit Pudelfrisur.
Einen Moment überlegte Claudia, ob sie ihrem Sohn wirklich die ganze Geschichte erzählen sollte. Er war noch so arglos und treuherzig mit seinen vierzehn Jahren. Klar doch, dachte sie. Sie musste sie nur richtig erzählen!
Also: Schläger-Karin schlich damals an Melli und Claudi vorbei und zischte: „Walkman raus und ab!“
Claudi kriegte das Zittern ihrer Knie kaum zum Halten. Der Walkman. Omas Geschenk zur Jugendweihe! Ihr schoss die Wut in den Bauch.
Als Schläger-Karin mit fordernd wippendem Unterarm „wird’s bald“ kläffte, holte Claudi mit irrer Wucht aus und knallte ihr die rechte Faust auf die Backe.
Schläger-Karin taumelte gegen den Fahrschein-Papierkorb, ihre Pudel-Begleitung sprang erschrocken zur Seite. Claudi war selbst erstaunt, wie perfekt der Schlag gesessen hatte.
„Ich – zeig – dich – an!“, schluchzte Schläger-Karin und hielt sich ihre Wange. „Du – musst – doch – sagen – dass – du – beim – Boxen – bist.“
Claudi hatte nie geboxt.
„Und ich bin sogar Stadtmeisterin“, setzte Melli noch eins drauf.
Stimmte auch nicht.
So ungefähr hat Claudia die Geschichte ihrem Sohn erzählt. Er lachte: „Typisch Mama!“

BRISANT

Oma guckt überlaut BRISANT. Sie liebt diese Sendung, weil da nicht so viel Blablaa kommt.
Ich möchte mich verabschieden.
„Wie bitte?“, ruft sie und hält die Hand an ihr Ohr.
Ich winke.
„Warte. Dann mach ich aus.“
Sie greift nach der grauen Fernbedienung und drückt einen Knopf. Die Fußfläche ihres Fernsehsessels hebt sich.
„Das war wohl verkehrt. Dann nehmen wir die hier.“
Auf dem anderen Teil steht Samsung drauf, das ist das richtige. Die Moderatorin spricht plötzlich noch ein paar Dezibel lauter, die Boxen geben alles.
Ich bin schon an der Tür und hebe die Hand.
Stille. Auch das Bild ist jetzt weggedrückt.
„So, ich hab’s geschafft. Nun kannst du mir etwas erzählen.“

Neuigkeiten ODER Der erste Frühlingstag

Das Fahrrad sieht nicht nach Frühling aus. Klümpchenweise hängt der Streugut-Matsch noch unterm Schutzblech, am Kettenblatt und an den Radnaben – ach, überall!  – wie nach einem Sandbahnrennen im Platzregen. Einen Moment lang schwanke ich zwischen aufkeimendem Putz-Aktionismus und Schulterzucken. Es könnte bald wieder schneien!
Doch auf der Terrasse steht die Sonne, bei den Nachbarn linkerhand hängen Kleider auf der Leine, und es riecht so sehr nach Komm-raus-und-fühl-mal, dass ich plötzlich sogar mit der Zahnbürste den Winter von meinem Fahrrad putzen würde. Mal schauen, wer noch draußen ist, mit wem ich anknüpfen kann an eine Herbstplauderei. Es ist doch so viel passiert! Doch ich hocke allein vor meinem umgedrehten Fahrrad und habe bald das Muster der Kette auf dem Handrücken. Die Nachbarskinder rechts sind nicht da. Im Herbst waren sie in einem Alter, in dem sie immer wieder ein lautstarkes Hallo durch die Hecke riefen.
Als ich mit dem Speichenputzen beginne, höre ich den Kleinen nebenan doch durch den Garten flitzen. „Hal-lo!“, kreischt er. Na endlich. Meine Gelenke knacken, als ich aufstehe. Da ist er! Und seine Schwester, die dieses Jahr in die Schule kommt, folgt. Sie bemerkt mich und schreitet plötzlich wie eine Königin, die Gelegenheit nutzend, eine neue Art von Cool-Sein auszuprobieren. Dabei gibt es etwas Dringendes mitzuteilen, so viel ist klar.
„Hal-lo“, unterbricht das Brüderchen ihr wohlgesetztes Schweigen.
„Zweiter Zahn raus!“, sagt sie beiläufig, doch laut genug, und verschwindet im Haus. Es ist alles gesagt.