In Eile

Vermutlich ist es nicht ausdrücklich verboten, sich während des Fahrradfahrens die Brille zu putzen. Die Liste der unerlaubten Handlungen würde sonst zu lang werden. Und manchmal ist eben ganz plötzlich ein Glas verschmiert und man muss trotzdem unbedingt weiterfahren.
Natürlich bleibt die Brille auf der Nase, weil Bügel und Helmriemen immer in einem verzurrten Nebeneinander feststecken.  Im Anorak ist ein Taschentuch rasch gefunden und herausgefingert, ohne dass das Schlüsselbund dabei verloren geht. Und jetzt wird so lange das Glas gerieben bis die Sicht wieder klar ist. Welch eine wohltuende Prozedur. Es geht im Wäldchen bergab zum See hinunter. Leider nimmt der Fahrtwind das Tuch mit. Anhalten! Umdrehen! Die paar Schritte wieder bergauf schieben und das Stück Zellstoff aufheben! Doch da sprengt ein riesiger Schäferhund heran …

Der läuft zum Glück vorbei, will nur die Enten jagen. Das ist jetzt ganz deutlich zu sehen.

Neues vom Schriftputzer*

Es handelt sich bekanntlich um ein Utensil meiner Großmutter.
Nach vier Jahrzehnten auf dem Dachboden war es, eingewickelt in seine Gebrauchsanweisung, plötzlich aufgetaucht – völlig nutzlos für mich und dennoch mit einer gewissen Aura gesegnet. Meine Großmutter war Lehrerin im Maschineschreiben gewesen.
Wohin mit dieser „Reinigungsknetmasse“?
Es dauerte noch drei Jahre, bis ich Frank Osthoff mit der alten Schreibmaschine Gabriele an seiner mobilen TippStelle traf. Schlaue Sätze und Verse hat er getippt und getippt und getippt. Ja, er freute sich über den Schriftputzer, vielleicht weil auch er ein Nostalgiker ist und man solchen Kram dann aufhebt. Einfach so.

Jetzt aber wurde es in der TippStelle Zeit für einen Frühjahrsputz. Frank erinnerte sich an die Spezialknete meiner Großmutter, las die Gebrauchsanweisung und legte los.
Was für ein glücklicher Tag für Gabriele!

*Siehe: Minutentexte vom 6.2.2020 und vom 26.8.2023

Nach Ostern

Freudestrahlend drängt die Sonne zwischen den Bäumen hindurch. Alles will sie mit Farben beleben, so heißt es.
Doch ein Freund ist gestorben.
Diese Kunde erschöpft alle Sinne und bedeckt die Welt mit einem grauen Schleier.
Wie zäh der doch ist.
Und wie gut auch.
Weil es jetzt Stille braucht zum Innehalten.

Jeder macht sich sein Bild

In Ausstellungen fotografiert man nicht. Das ist wie ein Gesetz.
No flash steht manchmal auf kleinen Schildern. Dann ist es erlaubt. Jedoch ohne Blitz!
Bei CDF zücken alle ihre Smartphones.
Unendlich ist der Himmel über dem grünschwarzen Meer. Möwen und Schaumkronen sind winzig getupft. Am Mönch gucke ich mich fest und erinnere mich an die Lektüre, in der die ganze Last der Trauer beschrieben ist, die Caspar David Friedrich erdrückt haben muss.
Ich krame verstohlen mein Smartphone hervor und mache ein Foto. Mit zwei Fingern ziehe ich den Ausschnitt größer – bis ich meine, mehr zu erkennen.
Der Mann am Meer wirkt sehr jung, fast knabenhaft. Vermutlich ist er barfuß. Jetzt könnte ich mir sogar ein Gesicht dazu vorstellen.

So viel Nähe war sicher nicht vorgesehen. Und mit unserem Voyeurismus hat Friedrich nicht gerechnet.

Im Wahn

Der Regionalzug ist rappelvoll am Sonntagnachmittag, weiterrücken geht nicht mehr, vorsichtig vorbeischlängeln auch nicht. Überall stehen Koffer und Körper an Körper. Wer sitzt, hat Glück.
Ein Mann wedelt mit den Armen und verkündet lauthals, er heiße Andreas Soundso. Dann hält er sich an der nächsten Gepäckablage fest, schwingt seinen Oberkörper weit in eine Viererzone und schreit, dass er gerade Frust schiebe und alle staunen würden, wie schnell jetzt ein paar Fressen poliert würden.
Einem Rentner an der Gangseite kommt er so nahe, dass er nur eine halbe Armlänge bräuchte um auszuführen, was er in bildhafter Fäkalsprache gerade prophezeit hat.
Sonst ist Stille im Waggon.
Aber Andreas Soundso schreit ja nur. Er tut nichts. Irgendwie ist das klar.
Dennoch schiebt sich der Rentner Bluetooth-Kopfhörer in die Ohren und schließt die Augen.
„Potsdam!“ Soundso findet ein Adjektiv, das diese Stadt verhöhnt, will eigentlich aber wissen, ob er die Station schon verpasst hat.
„Verpasst, ey, hörst du?“, grölt er und schimpft den Rentner einen Hurensohn, der sich seine Ohrstöpsel …
„Nein“, sagt plötzlich eine Frau ruhig und fest. „Nicht verpasst! Sie sind im falschen Zug.“
Beim nächsten Halt bildet sich ein Spalier, damit es Andreas Soundso auch wirklich bis nach draußen schafft.
Potsdam liegt am anderen Ende der Welt.

Else und Hans

– Möchtest du noch einen Tee, Hansel?
– Hab‘ noch.
Ein Waffelröllchen dazu?
Ich faste doch.

– Kann ich auch mal in deine Zeitung gucken?
Das machste doch schon.
Blätter‘ mal bitte weiter.
Steht aber überall was von Kriegen.
Dann lass.

Küchentopografie

Bayrisch Kraut liebte sie schon als ganz kleines Mädchen. Da wusste sie noch gar nicht, dass es Bayern gab. Sie kannte nur Bremen, weil dort die Westpakete herkamen. Doch durfte die Familie da nicht hinfahren. Die Omas wohnten im Spreewald und in Ostberlin. Jede Reise mit dem alten Trabi dauerte eine Ewigkeit. Aber in Berlin gab es dann Schlesische Kartoffelklöße und Thüringer Bratwurst. Und manchmal wurde auch Bayrisch Kraut serviert. Das schmeckte lieblich, nicht so bitter-salzig wie das Sauerkraut im Kindergarten.
Viele Jahre später hatte sich die Welt mannigfach gedreht. Das einst kleine Mädchen stand am eigenen Herd und rührte die schmalen, kurzen Kohlstreifen im angebratenen Speck. In Bayern war sie längst gewesen und zur Bratwurst gab es nun Dijon-Senf.
Typisch deutsch, wahrscheinlich.

Der Turm

Eine Schicht buckelt,
welches Holz ruckelt?
Wo schiebt es sich leicht,
fließend und seicht?
Kurz gibt es ein Stocken,
ein mittlerer Brocken
klebt konsequent
im Fundament.
Das Nachbar-Holz bebt,
bis es dann strebt
hinaus wie ein Wurm –
Gefahr für den Turm!
Manche Nuance
sorgt für Balance.
Kluges Platzieren
und Austarieren
erhöhen Niveau
und Risiko.
Noch wissen wir nicht,
WANN er zerbricht –
das ist nun mal eben
wie sonst so im Leben.

ksh

 

Für Zeitungsleser

Früher waren Zeitschriften und Zeitungen beim Friseur in Holzleisten geklemmt und an Haken aufgehängt. So ließ sich versehentliches Einstecken verhindern. In manchen Hotelfoyers gibt es die Pressestangen heute noch. Oft baumeln die Papierausgaben aber wie Trockentücher vor den Paneelen, während die Gäste ihre News digital konsumieren.
Falls die klassische Presseschau bald als nicht mehr zeitgemäß angesehen wird und Hakenleisten Monitoren weichen müssen, …

… wird es immer noch ein berühmtes Café in Lübeck geben, das der Tradition treu bleibt. Die historische Inneneinrichtung lässt nämlich keine Alternativen zu. Seit eh und je wird die regionale Tageszeitung in mehrfachen Exemplaren um alte Klemmstöcke gewickelt und in Rundfach-Regalen abgelegt.
So etwas gibt man nicht auf.