Es war der Moment, in dem alle schon Platz genommen hatten und die letzte Minute anbrach. Mit ihr kam mir ein milder Zweifel an meiner Kondition und Konzentration.
Half da nicht immer Traubenzucker?
„Johannisbeere. Minis“ hatte ich in meiner Tasche. Überraschenderweise war die Packung extrem lange abgelaufen, die Zuckerstückchen hatten sogar Pickel!
Oder sahen die immer so aus?
Eine absurde Situation.
Ich ließ das Päckchen wieder in die Tasche rutschen, ging den Weg zum Bühnenpodest und hatte die ersten Sätze dieses Minutentextes schon im Kopf.
HERZKASPERTHEATER. Kurzgeschichten
Die zwanzig Geschichten, lebensprall und kurzweilig, entführen in Welten, die gerade ins Wanken geraten sind. Im Klassenzimmer, Provinzbahnhof, Kleinflugzeu
g, auf der Theaterbühne oder auch im Pflegebett kommt es zu Eskalationen.
Die Titelgeschichte streift die Balance zwischen Albtraum und Ehefrieden, nachts. Herzkaspertheater.
Anderswo geraten ein Bratschist, eine Hausbesetzerin, ein Radiomoderator oder gar eine Dorfgemeinschaft aus dem Gleichgewicht. Und manche Erzählung holt alte Zeiten zurück: Plötzlich riecht es wieder wie damals in der Penne, Breschnew liegt aufgebahrt in Moskau und das Leben sollte doch gerade anfangen. Immer kommt alles anders.
Die Buchpremiere wird am 31.03.23 um 19:30 Uhr in der Schweriner Stadtbibliothek gefeiert. Musikalische Begleitung: Klaus Gebauer, Cello.
Ein sicherer Job
So eine schöne Party! Fröhliche Gesichter. Schmalzstullen wie früher.
Auch Ulli ist dabei, der lustige Schnacker, der schon so viele Autos verkauft hat.
Wir prosten uns zu. Lange nicht gesehen.
Ja, er müsse immer sehr früh raus. Um sechs stehe er am Panzer.
Am Panzer?
Ja, Marder. Er repariere die jetzt.
Wenn es um Waffen geht, wird mir immer eiskalt, und ich möchte „Stopp!“ schreien oder „Frieden!“
Passt gerade nicht.
Ob er nicht traurig sei, dass er nur mit Kriegszeugs zu tun habe?
Ulli nickt. Dann strafft er sich: „Aber es ist öffentlicher Dienst.“
町の新しい Neu in der Stadt
Der Englischkurs fängt neu an.
Neue Gesichter.
Ein neues Buch.
Auch M. ist neu. Den bringt die Fremdsprachen-Fachbereichsleiterin, die schnell alles Neue ansagen muss, gleich mit in die Klasse. Stand er doch so ratlos auf dem Flur!
Also – rein hier!
„Sind Sie denn angemeldet?“, fragt die Englischlehrerin.
M. nickt und setzt sich ganz nach hinten.
Damit alle Neuen schnell nicht mehr fremd sind, gibt es eine Vorstellungsrunde. Jeder schreibt einiges über sich selbst auf einen Zettel. Ein anderer muss das dann entziffern und gut verpacken. Auf Englisch natürlich. Das ist lustig. Es dauert auch ein bisschen. Momente später kennt man sich sowieso. Weil die Stadt so klein ist.
Nur M., der ganz sicher aus Asien kommt, hat alles auf Deutsch notiert.
Schließlich will er das mal perfekt können. Jetzt ahnt er jedoch, dass er sich in der Tür geirrt hat. Ähm, wer nochmal hatte sich geirrt?
Nebenan ist sein Deutschkurs. Ein anderer Fachbereich wohl.
Schnell ist er weg. Sein Zettel bleibt liegen.
G. übersetzt ins Englische. Nun wissen wir sogar auch ein bisschen über M., einem japanischen Gourmetkoch, von dem in der Stadt noch die Rede sein wird.
Buchpremiere HERZKASPERTHEATER
Am 31.03.2023 fand in der Schweriner Stadtbibliothek eine Buchpremiere statt.
HERZKASPERTHEATER
Musikalische Begleitung: Klaus Gebauer, Cello
Wer ist schon normal?
Theo hatte ein Seminar in Bonn. Genau in der Karnevalswoche.
Es war zur Sache und unter die Haut gegangen.
Also zog es ihn an den Rhein zum Spazieren und zum Abschalten. Hier war sogar schon Frühling.
Auf der Rückfahrt im Bus war er von Narren und Jecken umgeben. Reichlich angeschickert saß ihm eine Funkenmarie mit viel Dekolleté gegenüber. Sie lallte aufgekratzt in ihr Telefon.
Als sie sich schwankend erhob, machte sich Theo ganz schmal. Nicht, dass ihr jetzt schlecht wurde!
Theo hielt nun mal nix von Karneval.
Womöglich war er hier der einzige Normale.
Wie sie ihn ansah beim Aussteigen!
„Hach, der Theo …!“, seufzte sie schmachtend.
Was es alles gab! So hieß er doch wirklich!
Nach einem schweren Atemzug hatte Theo sich wieder gefangen und fummelte das Namensschild von seinem Pullover.
Mittagspause
Der Bäcker bietet auch einen kleinen Mittagsimbiss an. Alle Tische sind besetzt, die Wartenden stehen in Doppelreihen. Da flitzt ein Mütterchen von der Straße in den Laden, huscht an den Leuten vorbei, studiert die von der Decke hängende Werbung – Neu! Knolli, Kraut und Schinken – Ran an die Knollis! – inspiziert die ausgelegten Mettbrötchen mit Gurke, die Stadt- und die Roggenkrosser, schlurft am Kuchenangebot entlang und dreht eine Runde durch den Gastraum. Die Leute lächeln zurück, kauen weiter, niemand hat einen Platz neben sich frei. Den braucht die Frau auch gar nicht. An der Ladentür dreht sie sich nochmal um und murmelt:
„Man muss nicht immer essen.“
Fixbus
Zwölf Kraniche.
Rehe.
Ein Mäusebussard.
Tropfenflüsse huschen über die Scheiben.
Acht Reisende.
Der Fahrer pult sich im rechten Ohr. Immer wieder. Auch beim Spurwechsel. Dann auf gleicher Höhe – ein LKW, ewig. Wie seitlich angeschraubt.
Der Busfahrer kratzt sich, er braucht das. Dann gibt er Gas.
Was für ein fixer Fixbus das doch wird, der Lastwagen gibt nach. Auf seinem Container steht Towards a more sustainable future.
Wartezeiten
An der Fußgängerampel steht ein blasser Mann mit zwei blassen großen Hunden.
Ich mache einen Bogen um die Tiere und attackiere den Schalter für den Ampelbetrieb. Dabei hatte der Mann bestimmt schon gedrückt.
Knall-knall-knall-knall, scheppert die Mechanik.
„Davon geht’s auch nicht schneller“, sagt der Mann.
„Doch, das hat mir mal jemand erzählt“, sage ich.
„Stimmt aber nicht“, erwidert er, „ich hab‘ das nämlich programmiert!“
Ja, er sieht aus wie einer mit Informatikstudium.
„Auch die Anlage da vorn. Und die an der Chaussee“, schiebt er noch hinterher.
Grün. Die Hunde trotten los.
Ich weiß jetzt, wem ich meine täglichen Warteminuten zu verdanken habe.
Am Büchertisch
Käthchen Kruse-Federkiel wartet in der Schlange der Autoren darauf, ihr Belegexemplar ausgehändigt zu bekommen. Durch Zufall gelangte einer ihrer Artikel in ein wissenschaftliches Jahrbuch. Dabei ist Altertumskunde gar nicht so richtig ihr Fachgebiet. Egal. Es hat einen Festvortrag und Würdigungen gegeben, die Stimmung ist heiter.
Der Schatzmeister des Vereins findet Käthchen in der Autorenliste, zeigt mit dem Finger auf sie und hebt bedeutungsvoll die Stimme:
„Ich kenne Ihren Ex …!“
„Oh, wer ist denn mein Ex?“
An solchen Irrtümern hat sie ihre Freude.
„Na, Herr Federkiel …“
„Das ist mein Mann.“
Ein Doppelname führt manchmal zu Verwechslungen, wenn ein Bestandteil früher anderswo vorgesetzt oder angehängt worden war. Sowas passiert auch in der Altertumskunde. Der Schatzmeister jedenfalls scheint bei den Federkiels seit Jahrzehnten nicht auf dem Laufenden zu sein.
„Ich glaube, Sie kennen die Ex meines Mannes“, klärt Käthchen auf, denn das ist sogar wahrscheinlich.
Käthchen Kruse-Federkiel mag am liebsten die Fettnäpfe, in die sie nicht selbst hineingetreten ist.








