Woanders

S. möchte Lokführer werden.
Das klingt wie die Ansage eines Steppkes mit Traumberuf. Ganz vorn sitzen dürfen, losrattern und richtig Dampf ablassen.

Doch S. war jahrzehntelang Musiker. Bekannt wie ein bunter Hund.
Seit Monaten konnte er nicht mehr so brillant spielen wie früher. Niemand sprach ihn darauf an, aber er spürte es selbst. Eine Berufskrankheit. Sie wurde anerkannt. Die Umschulung durfte er sich aussuchen.

Sechs Wochen des Lokführerkurses hat er nun hinter sich. Technik, Paragrafen, Streckenkunde. Er staunt, dass er noch lernen kann mit über Sechzig.

Das sanfte Rumpeln unter seinen Füßen wird ihm zum Taktgeber in der Lok. Rhythmus gibt es auch hier. Das sagt er sich immer.
Doch – nun ja – die Musik spielt woanders.

Eine Hundebotschaft

 

Mir schien, Bello wollte mir etwas mitteilen. Mag sein, dass er eine Fährte aufgenommen hatte und nicht wegkam von der Stange, an die er geknotet war. Oder dass er sich mit dem E-Roller nicht anfreunden konnte.
Vielleicht sah er aber auch nur das Gewitter kommen.

Henne und Ei

 

Die Henne war zugange
täglich auf der Stange
und presste EINS-ZWEI-DREI – – –
für’s Frühstückszuckerei.

Drum hat’s sich so ergeben:
Sie wurd‘ im nächsten Leben
(das Schicksal ist nicht bange)
zu einer Zuckerzange!

 

Klavier-Abschied

„Wir fahren jetzt los in Meteln“, sagt der Klavierbauer am Telefon. Seine Stimme zeigt Gespür für die historische Tragweite meines Nachmittags.
(Fast) aller Welt reicht ein E-Piano zu Hause, deshalb hatte ich schon befürchtet, niemand würde Vaters Klavier haben wollen. Trotz des warmen Klanges.
Doch es kam anders. Mit Yuko hatte ich beim Flohmarkt nicht gerechnet.
Ich zeigte ihr die kleine Brandstelle an der Oberklappe. Vor mehr als vierzig Jahren hatten wir uns mit unseren Instrumenten um den Klavierspieler geschart. Der schwenkbare Leuchter wurde näher und näher an das einzige Notenheft gerückt, in das wir alle hineinschauten, die Geigen am Kinn. Plötzlich roch es angekokelt. Und das Klavier qualmte.
Yuko schmunzelte, setzte sich, spielte. Brahms, Chopin. Ein kleines Hauskonzert vom Feinsten.

Nun steht der Transporter vor der Tür.
„Eine Stufe nur“, freuen sich die Klavierbauer.  „Was ist mit dem Hocker?“
Yuko hat genügend Hocker. Sie ist Pianistin.
Einmal Luftanhalten – und das Klavier steht auf dem Rollbrett. Es schwebt durch den Vorgarten und steigt dank geübter Griffe in den Firmenwagen.
Jetzt ist es bei Yuko. Mein Vater wäre sprachlos vor Entzücken.

Überraschungen

Es wohnte einmal – oben auf der Anhöhe – eine Mutter mit zwei Kindern. Fuhr bei ihnen Besuch wieder ab, winkten die drei solange es ging. Damit nun die Überraschungen folgen konnten, zeigte die Mutter in zwei Richtungen:
„Du zur Haltestelle …! – Und du an die Chausseetreppe! – Ich lauf zur Kneipe runter.“
Das erste Kind musste da schon losgeflitzt sein, denn an der Bushaltestelle kam der ahnunglose Besuch zuerst vorbei. Meist wurde das Kind im letzten Moment noch entdeckt. Was für ein Gejuchze und Gewinke.
Dann war das Auto um die Kurve und erreichte die Kneipe, die schon lange keine mehr war. Da stand die Mutter, noch ganz außer Atem, und winkte mit dem karierten Geschirrhandtuch. Herrje – was für eine Überraschung!
An der Gabelung mussten sich die mehrfach Verabschiedeten nun entscheiden. Bogen sie auf die Bundesstraße ab, kamen sie nicht an der Chausseetreppe vorbei. Dort wartete das andere Kind dann noch eine geraume Weile, ehe es wieder nach Hause  trottete. Mitunter klappte die Überraschung eben nur zwei Mal.

Nordic Walking

Gut siehst du aus, hatte die Nachbarin heute früh gesagt. Und es klang, als würde sie etwas Wesentliches verschlucken: Du bist doch in Trauer.
Brigitte betritt ihre Wohnung, hängt die Stöcke an die Garderobe und spürt wieder dieses muntere Kribbeln. Sollen doch alle sehen, wie verliebt sie ist.
Unter der Dusche zupft sie ein wenig an ihrer Haut. Dreiundachtzig – was soll da noch groß sein?
Na, alles!
Am wenigsten ihr Mann hätte das wohl für möglich gehalten. Zumal – mit seinem Vetter, der immer nur durch die Welt gereist ist. Von einem Engagement zum nächsten. Zur Beerdigung konnte er nur kommen, weil er nun nicht mehr arbeitete. Als Artist.
Der lief auf Händen durch ihre Stube, und Brigitte lachte endlich alles aus sich heraus.
Dann kam er öfter.
Brigitte will nun auch fit bleiben.

Die Riesenspinne

Brügge ist wahrlich atemberaubend.
Manchmal sehnt sich aber auch solch eine Stadt nach einer zusätzlichen Attraktion. So krabbelte zum Museumsfest am vergangenen Wochenende eine Riesenspinne durch die Straßen. Als ein Objekt des französichen Künstlerkollektivs „la machine“ war sie – zerlegt – schon Tage zuvor angereist und mutierte dank der Expertenroutine vom Stahlpaket zum überaus gelenkigen Insekt. Damit es sich aufrichten, seine Beine in Bewegung setzen und den Blick dabei schweifen lassen konnte, brauchte es siebzehn Unerschrockene, die auf vibrierenden Sitzen generalstabsmäßig Anweisungen per Headset entgegennahmen und ihre Schaltknüppel bedienten. Die Spinne tat, was Spinnen nun mal tun, wenn sie nicht gerade ein Netz weben. Sie tippelte, eilte auch mal, drehte sich und pinkelte.

Und dann spie sie einen Schwall Spinnenspucke in die Menge.

Paris. Les Secrets de l’Opéra

Die Fußgängertunnel an den Pariser Metro-Stationen sind mitunter wahre Labyrinthe. So auch an der Oper. Alle sind hier in Eile, schieben sich aneinander vorbei, jeweils rechts wie im Straßenverkehr. Knallende Absätze, schlurfende Schritte; in der Ferne rauscht eine Bahn heran oder davon. Es gibt keine Grafitti an den gekachelten Wänden, doch da hocken ein paar Winzlinge auf dem Fries – Musiker! Schon vorbei. Eine Tänzerin schwebt in die entgegengesetzte Richtung. Techniker gibt es auch. Operndiven. Eine Maskenbildnerin im Hohlkreuz bei der Arbeit. Und Bühnenarbeiter natürlich. Personal der Oper.

Da kommt noch einer und bringt das Mikro. Denn hier spielt die Musik!

 

Der 1. Preis – Ein Rätsel

Im Garten meiner Luckauer Vorfahren gab es die größten Kürbisse, schöne Astern und einen Apfelbaum, dessen Zweige über die Mauer zur Gasse ragten.
Die Großtante versuchte uns im Winter mit eingewecktem Kürbiskompott zu locken, doch das Apfelmus der Großmutter schmeckte besser. „Alles aus eigenem Garten“, hieß es immer. Das Prinzip der Selbstversorgung mag zuweilen geklappt haben. Demütig erinnerte sich die Großmutter an die „schlechte Zeit“, 1946, als sie ihre Kleinen irgendwie durchbringen musste.
Doch von 1922 sprach niemand.

Wie mag die Medaille in den Besitz meiner Familie geraten sein?

Produktive Arbeit* im Plastmaschinenwerk** 1980

Quietschen, Motorenlärm und Rasselgeräusche lagen in der Luft. Es roch immer nach Männerschweiß, Öl und durchgebrannter Glühbirne. Durch die offenen Fabrikhallentore sahen wir schon morgens, kurz nach sieben, dass der Tag längst begonnen hatte im Werk. 1600 Menschen arbeiteten hier im Schichtsystem. Wir eilten in die Umkleideräume und knöpften uns die Arbeitshosen zu. Auf dem Latz war das PMS-Emblem in Schüler-Farbe befestigt. Rot. Der PA-Lehrer konnte sich unsere Namen nicht merken, aber er sah mit bloßem Auge, dass mein Winkelsegment für die Handhebelschere immer noch einen guten Millimeter zu lang war. Genauso wie beim letzten Mal vor zwei Wochen. Nahm ich nun aber die Raspel anstatt der feinen Feile, war ich nicht exakt genug. Hingeschoben, zurückgezogen, hingeschoben, zurück. Bis das Ding im Schraubstock heiß wurde und nach Kurzschluss stank.
Immerhin konnten meine Werkteile irgendwann zu einer wirklichen Handhebelschere montiert werden.

*PA war in der DDR ein Unterrichtsfach ab der 7. Klasse
**Das PMS, heute Unirota Maplan, macht nun dicht. 80 Mitarbeiter werden entlassen. Drei oder vier Leute dürfen bleiben für die Bearbeitung von Gewährleistungsfällen.