Überraschungen

Es wohnte einmal – oben auf der Anhöhe – eine Mutter mit zwei Kindern. Fuhr bei ihnen Besuch wieder ab, winkten die drei solange es ging. Damit nun die Überraschungen folgen konnten, zeigte die Mutter in zwei Richtungen:
„Du zur Haltestelle …! – Und du an die Chausseetreppe! – Ich lauf zur Kneipe runter.“
Das erste Kind musste da schon losgeflitzt sein, denn an der Bushaltestelle kam der ahnunglose Besuch zuerst vorbei. Meist wurde das Kind im letzten Moment noch entdeckt. Was für ein Gejuchze und Gewinke.
Dann war das Auto um die Kurve und erreichte die Kneipe, die schon lange keine mehr war. Da stand die Mutter, noch ganz außer Atem, und winkte mit dem karierten Geschirrhandtuch. Herrje – was für eine Überraschung!
An der Gabelung mussten sich die mehrfach Verabschiedeten nun entscheiden. Bogen sie auf die Bundesstraße ab, kamen sie nicht an der Chausseetreppe vorbei. Dort wartete das andere Kind dann noch eine geraume Weile, ehe es wieder nach Hause  trottete. Mitunter klappte die Überraschung eben nur zwei Mal.

Nordic Walking

Gut siehst du aus, hatte die Nachbarin heute früh gesagt. Und es klang, als würde sie etwas Wesentliches verschlucken: Du bist doch in Trauer.
Brigitte betritt ihre Wohnung, hängt die Stöcke an die Garderobe und spürt wieder dieses muntere Kribbeln. Sollen doch alle sehen, wie verliebt sie ist.
Unter der Dusche zupft sie ein wenig an ihrer Haut. Dreiundachtzig – was soll da noch groß sein?
Na, alles!
Am wenigsten ihr Mann hätte das wohl für möglich gehalten. Zumal – mit seinem Vetter, der immer nur durch die Welt gereist ist. Von einem Engagement zum nächsten. Zur Beerdigung konnte er nur kommen, weil er nun nicht mehr arbeitete. Als Artist.
Der lief auf Händen durch ihre Stube, und Brigitte lachte endlich alles aus sich heraus.
Dann kam er öfter.
Brigitte will nun auch fit bleiben.

Die Riesenspinne

Brügge ist wahrlich atemberaubend.
Manchmal sehnt sich aber auch solch eine Stadt nach einer zusätzlichen Attraktion. So krabbelte zum Museumsfest am vergangenen Wochenende eine Riesenspinne durch die Straßen. Als ein Objekt des französichen Künstlerkollektivs „la machine“ war sie – zerlegt – schon Tage zuvor angereist und mutierte dank der Expertenroutine vom Stahlpaket zum überaus gelenkigen Insekt. Damit es sich aufrichten, seine Beine in Bewegung setzen und den Blick dabei schweifen lassen konnte, brauchte es siebzehn Unerschrockene, die auf vibrierenden Sitzen generalstabsmäßig Anweisungen per Headset entgegennahmen und ihre Schaltknüppel bedienten. Die Spinne tat, was Spinnen nun mal tun, wenn sie nicht gerade ein Netz weben. Sie tippelte, eilte auch mal, drehte sich und pinkelte.

Und dann spie sie einen Schwall Spinnenspucke in die Menge.

Paris. Les Secrets de l’Opéra

Die Fußgängertunnel an den Pariser Metro-Stationen sind mitunter wahre Labyrinthe. So auch an der Oper. Alle sind hier in Eile, schieben sich aneinander vorbei, jeweils rechts wie im Straßenverkehr. Knallende Absätze, schlurfende Schritte; in der Ferne rauscht eine Bahn heran oder davon. Es gibt keine Grafitti an den gekachelten Wänden, doch da hocken ein paar Winzlinge auf dem Fries – Musiker! Schon vorbei. Eine Tänzerin schwebt in die entgegengesetzte Richtung. Techniker gibt es auch. Operndiven. Eine Maskenbildnerin im Hohlkreuz bei der Arbeit. Und Bühnenarbeiter natürlich. Personal der Oper.

Da kommt noch einer und bringt das Mikro. Denn hier spielt die Musik!

 

Der 1. Preis – Ein Rätsel

Im Garten meiner Luckauer Vorfahren gab es die größten Kürbisse, schöne Astern und einen Apfelbaum, dessen Zweige über die Mauer zur Gasse ragten.
Die Großtante versuchte uns im Winter mit eingewecktem Kürbiskompott zu locken, doch das Apfelmus der Großmutter schmeckte besser. „Alles aus eigenem Garten“, hieß es immer. Das Prinzip der Selbstversorgung mag zuweilen geklappt haben. Demütig erinnerte sich die Großmutter an die „schlechte Zeit“, 1946, als sie ihre Kleinen irgendwie durchbringen musste.
Doch von 1922 sprach niemand.

Wie mag die Medaille in den Besitz meiner Familie geraten sein?

Produktive Arbeit* im Plastmaschinenwerk** 1980

Quietschen, Motorenlärm und Rasselgeräusche lagen in der Luft. Es roch immer nach Männerschweiß, Öl und durchgebrannter Glühbirne. Durch die offenen Fabrikhallentore sahen wir schon morgens, kurz nach sieben, dass der Tag längst begonnen hatte im Werk. 1600 Menschen arbeiteten hier im Schichtsystem. Wir eilten in die Umkleideräume und knöpften uns die Arbeitshosen zu. Auf dem Latz war das PMS-Emblem in Schüler-Farbe befestigt. Rot. Der PA-Lehrer konnte sich unsere Namen nicht merken, aber er sah mit bloßem Auge, dass mein Winkelsegment für die Handhebelschere immer noch einen guten Millimeter zu lang war. Genauso wie beim letzten Mal vor zwei Wochen. Nahm ich nun aber die Raspel anstatt der feinen Feile, war ich nicht exakt genug. Hingeschoben, zurückgezogen, hingeschoben, zurück. Bis das Ding im Schraubstock heiß wurde und nach Kurzschluss stank.
Immerhin konnten meine Werkteile irgendwann zu einer wirklichen Handhebelschere montiert werden.

*PA war in der DDR ein Unterrichtsfach ab der 7. Klasse
**Das PMS, heute Unirota Maplan, macht nun dicht. 80 Mitarbeiter werden entlassen. Drei oder vier Leute dürfen bleiben für die Bearbeitung von Gewährleistungsfällen.

Carls Wege

Carl ist seinen Weg gegangen.
Später auch gefahren. Mit dem Automobil.
Er war penibel, hat festgehalten, wie weit er gekommen ist. Zunächst notierte er die Ziele gar auf seiner Wandergitarre. Da war er noch keine zwanzig und hat schon auf dem Bau gearbeitet.

Ein halbes Leben später – alt ist er nicht geworden – führte er ein „Bordbuch“.
Der junge Architekt besichtigte seine Baustellen mit der Limousine. Lübben, Crinitz, Zossen … Das Automobil soff den Kraftstoff wie ein Brauereipferd.

Carl (1898 – 1946) ist nicht sehr weit gekommen. Aber die Gitarre, seine Dokumente und einige seiner Bauwerke gibt es noch heute.
Spuren des Großvaters.

Der Hase aus Gleiwitz

Viele Jahre lag der Löffel ein wenig eingekrümelt in einem der hinteren Besteckfächer, weil Silber nicht in die Spülmaschine gehört.
Ich erinnere mich an frühere Momente, in denen mein Vater seinen kleinen Töchtern am Küchentisch das Häschen zeigte. In Gleiwitz sei dies sein Kinderlöffel gewesen.
Irgendwie hat er noch in den Fluchtkoffer gepasst.
Und nun, achtzig Jahre später?
Silber!
Na und …?
Jetzt werden bei mir die Flocken nicht mehr grob ins Müsli-Schälchen geschüttet, sondern andächtig hinübergelöffelt .
Meister Lampe hat es also in eine neue Ära geschafft.
So ist das mit alten Hasen.

Abgestempelt

Im Archiv der Süddeutschen Zeitung ließe sich u. a. dieser Wortsalat-Satz auf’s Papier stempeln:
Ab 9. November =Biographie / Besonderes =Familie. Sammelakte. Kultur. Weltpolitik. Filmende!

 

Typisierung

Zunächst traf es mich eher oberflächlich: Wieder ein Leukämiefall – wie schrecklich!
Als mich der Aufruf ein zweites Mal erreichte, erkannte ich auf dem Foto das Gesicht von Friederike, hörte ihr schepperndes Lachen und sah plötzlich den Abgrund. Vor mehr als zwanzig Jahren waren wir uns fast täglich begegnet. Jetzt hatte sich ein Stopp-Schild vor ihre Füße gedrängt.
Ein Schritt weiter oder eine unbedachte Bewegung konnten genügen. So mochte es sich anfühlen.
Mit Knochenmarkspenden hatte ich mich noch nie beschäftigt.
„Mit vollen Segeln für Friederike … Du kannst helfen“ stand auf dem Flyer.
Also zog ich los.
„Mund auf. Stäbchen rein. Spender sein.“
Ein knackiger Spruch.
Es würde schnell gehen. Erstmal.

Noch schneller war ich wieder draußen, weil schon ein wenig zu alt für die Typisierung. Die DKMS macht keine Ausnahmen.
Doch meine Zwillingsschwester – ja, mit identischen Gewebemerkmalen! – wusste Rat. Seit Jahrzehnten registriert, würde sie doch spenden, falls  ….
Ja, falls … Irgendwo wird es passen, Friederike!
Möglichst bald.