KALININGRADER NOTIZEN – Ein Zoobesuch

Gerhard, von dem hier früher schon die Rede war, hat als Kind den Zoo in Königsberg geliebt. Nie wieder hätte er einen schöneren gesehen.
Es war ein richtiger Vergnügungspark mit prunkvollen Gebäuden, Rollschuhbahn, Tierpark-Konditorei, Konzerthalle und Heimatmuseum.
Man konnte ganze Sonntage dort verbringen und wollte nicht wieder nach Hause.
Die Bombardierung hatten nur vier Tiere überlebt: ein Damhirsch, ein Dachs, ein Esel und ein Nilpferd.
Längst wird wieder gebrüllt, getrötet und geplantscht im Zoo.
Jedoch nicht überall.

Ein paar Tage später habe ich im Zoo Kontakt mit einem Strauß. Er zwinkert mir zu und bittet mich, doch einmal die alte Königsberg-Brille abzunehmen. Ich erfahre die Geschichte vom Nilpferd Hans, das überlebt hatte. Schwer verletzt war es von einem Soldaten, einem Tierarzt zu Friedenszeiten, gefunden worden. Fressen wollte Hans nicht. Trinken auch nicht. Das Tier wäre gestorben, wenn der Soldat nicht ein Heilmittel an ihm ausprobiert hätte: vier Liter Wodka gegen die Schmerzen und so viele Futterrüben, wie er auftreiben konnte. Und dann ein Einlauf, der sich gewaschen hatte! Diese Prozedur ließ Hans zwei Mal über sich ergehen. Dann ergriff er seine Chance und überlebte.

Tja, und auch heutzutage würden Zoo-Fans ganze Sonntage hier verbringen …

KALININGRADER NOTIZEN – Wo das Gras wächst

Das erste Arbeitsessen am Pregel-Ufer mit A. und Z. sowie meiner Mit-Stipendiatin C. schafft Momente, in denen ich die Abendsonne bitten möchte, einfach anzuhalten über dem Fluss. Der üppige Blumenstrauß, der nach Kamille hätte duften dürfen, steht zwischen uns. Spätsommerliche Wärme, kein Grau. Gleich dahinter die sogenannte Kant-Insel mit dem Dom. In der Dunkelheit, später, gehen wir daran vorbei, auch an den umzäunten Ausgrabungen mit Resten vom Schloss.

Vor zwei Monaten hatte man diese Fläche für das Public Viewing zur Weltmeisterschaft gebraucht. Die zunächst geplante Glasabdeckung wäre schön gewesen, aber man entschied sich, die Kellerruinen für die paar Wochen  zuzuschütten und zu planieren. Die Fans werden sowieso nur Augen für die Leinwand gehabt haben.
Es soll eine Sache von wenigen Tagen gewesen sein, die Trümmer wieder auszugraben. Das Gras auf den ruinösen Mauern hat sich bereits erholt.

KALININGRADER NOTIZEN – Prolog

Auf das Leuchten hinter dem Grau solle ich achten und auf die menschliche Wärme,
hat mir jemand geraten, der lange hier war.
Ich will es von Beginn an tun. Vier Wochen sind kurz.
Oder: Vier Wochen könnten sonst sehr lang werden.
A. hat heute Geburtstag.  Dass ich dennoch fliege, wird der Familiennähe nichts anhaben. Allein das wärmt durch.

Na sowas!

Heute vor 31 Jahren habe ich Thomas Gottschalk getroffen. In Ostberlin. Ja, da gab es noch die Mauer, und ich hatte Mittagspause.
„Na sowas!“ im ZDF hatte ich geliebt!
Ich verstand nicht, warum die Menschen an ihm vorbeiliefen, ohne zu gucken.
Ich guckte. Und ich konnte kaum fassen, dass er es wirklich war – allein, wartend, in den Arkaden, die es nicht mehr gibt an der Friedrichstraße.
Blitzschnell zog ich meinen Taschenkalender hervor und reichte ihm auch einen Stift. Wenn ich irgendwann welche hätte, wollte ich das Autogramm noch meinen Kindern zeigen können.

Das habe ich jetzt getan. Im gleichen Karton wie die Kalender liegt auch mein altes Tagebuch. Mir wurde ganz heiß, als ich daraus vorlas. Meine Ängste von 1987. Die innige Freude über einen reparierten Kaltwasser-Anschluss in der besetzten Wohnung. Die Zweifel. Die Sehnsüchte.
Kein Wort über Thomas Gottschalk? Na sowas!

Lesung in Kaliningrad

Zweisprachige Lesung & Gespräch
im Zentrum für Zeitgenössische Kunst Kaliningrad
Moskovskij prospekt 39
am 12. September 2018 um 19:00 Uhr

 

 

 

 


Die Kurzgeschichte „Oma“ wurde für diese Lesung von Zinaida Scherschun ins Russische übersetzt.

Innerer Monolog eines Notenblattes

Noten haben kurze Beine,
laufen stets im Takt davon,
gefügig trippelnd, dann à tempo,
Stück für Stück den Marathon.
Manche tragen wohl ihr Kreuz,
vom Halbton wissend, das System
setzt Zeichen allemal geschickt,
ein Doppelkreuz ist unbequem.
Zieht man rhythmisch in Betracht,
wann welcher Ton zu halten sei
und welcher gar nur angetippt
im Schwall gedruckter Drängelei,
dann naht wohl oft ein Funkenflug,
das Tongerüst beginnt zu schillern,
im Presto wird sanft angeregt,
fortissimo auf As zu trillern.
Die Melodie, am Höhepunkt,
verliebt sich in das Radikale,
wissend, dass das Ende naht,
was folgt, ist nur noch das Finale.
Sieh an, gedruckt steht hier: da capo,
erst dann wird sich wohl alles fügen –
und sei es nur zum Zeitvertreib,
aus Noten-Lust und zum Vergnügen.

ksh

B & B in Twyford, Hampshire

Her husband is a painter.
Schwer neigen sich seine Rosenblüten über die auf dem Doppelbett drapierte Kissenflut. Am Goldrahmen klebt dezent ein Preis, falls Gäste interessiert sind. Ebenso im Bad – eine Brücke in Winchester, der die Stromschnellen des Itchens nichts anhaben können.
Viel Wasser, in Öl gemalt.
Auf Knopfdruck nieselt es ein wenig aus dem Duschkopf, sehr fein, doch es eilt ja nicht, zumal das Fenster zum Garten weit geöffnet ist und die vertrauten Rosenstöcke es bis hier hinaufgeschafft haben.
What a wonderful day!

Merry Maidens, Cornwall

Bei Sonnenuntergang wirkt der Steinkreis noch magischer.
Da ist doch jemand!
Eine lange Vogelfeder zittert über einem geblümten Hutrand.
Einmal halb um den größten der Steine herumgegangen, sitzen da sogar zwei Männer. Schweigend.
Der Zweite strafft den mit keltischen Symbolen tätowierten Oberkörper und scheint den Energiefluss zu lenken, während der mit dem Blümchenhut sein Pink-Floyd-Shirt über dem mächtigen Bauch glatt zieht und munter Salzgebäck vor sich hin knuspert.

Das Gemeinschaftsprojekt

Die neunjährige Nachbarstochter schreibt Piratengeschichten. Oft kommen auch Tiere vor, je nachdem. Sie möchte gern gemeinsam an einer Geschichte arbeiten, zu zweit also.
Die Vorstellung von vier Beinen in der Lücke unter dem Schreibtisch ist nicht gerade inspirierend. Also einigen wir uns auf eine gemeinsame Geschichte – Tag eins schreibt sie und Tag zwei ich. Zwei Hasen kommen darin vor, ein Kater und ein Schreibhäuschen.
Abends habe ich schon Lust: Am zweiten Tag war alles anders. Wolken hingen ganz tief über den Apfelbäumen, die zwei Hasen verkrochen sich im hintersten Winkel ihrer Bude und dem Kater zitterte der Schwanz. Gewitterstimmung…
Als wir uns wiedersehen, ist beim Nachbarskind das Farbband eingetrocknet. Die alte „brother“, elektrisch schon, bremst aus.
Am Wochenende kann sie endlich ausdrucken. Eine halbe Seite – und dann hat sie Platz für eine Illustration. Tag eins.
Wir lesen einander vor und tauschen die Blätter.
Kein großer Akt.
Das Projekt ist gelungen.

Am Görslower Ufer

Am 19.12.1945, als die kleine Heidi von nebenan ihren ersten Nachkriegsgeburtstag feierte und das Central-Café gerade wiedereröffnet war, schwappten die Wellen des Schweriner Sees wie eh und je ans Görslower Ufer. Die Buchen dort standen stramm in der milden Dezemberbrise, als einer der Russen sein Messer zückte. Es war scharf und noch nicht lange in seinem Besitz.
Hier und jetzt wollte er den ersten Schnitt probieren.
Er setzte die Klinge an die Rinde und hielt mit der Fingerkuppe nur sanft dagegen, weil er an etwas Butterweiches dachte. Doch es war eine Buche. Hart. Also griff der Russe anders zu und sägte mit der Schneide, kratzte und schabte. 19. XII. 1945г.
Вадим hieß er wohl.
Die Rinde versteckt ihn allmählich.