Produktive Arbeit* im Plastmaschinenwerk** 1980

Quietschen, Motorenlärm und Rasselgeräusche lagen in der Luft. Es roch immer nach Männerschweiß, Öl und durchgebrannter Glühbirne. Durch die offenen Fabrikhallentore sahen wir schon morgens, kurz nach sieben, dass der Tag längst begonnen hatte im Werk. 1600 Menschen arbeiteten hier im Schichtsystem. Wir eilten in die Umkleideräume und knöpften uns die Arbeitshosen zu. Auf dem Latz war das PMS-Emblem in Schüler-Farbe befestigt. Rot. Der PA-Lehrer konnte sich unsere Namen nicht merken, aber er sah mit bloßem Auge, dass mein Winkelsegment für die Handhebelschere immer noch einen guten Millimeter zu lang war. Genauso wie beim letzten Mal vor zwei Wochen. Nahm ich nun aber die Raspel anstatt der feinen Feile, war ich nicht exakt genug. Hingeschoben, zurückgezogen, hingeschoben, zurück. Bis das Ding im Schraubstock heiß wurde und nach Kurzschluss stank.
Immerhin konnten meine Werkteile irgendwann zu einer wirklichen Handhebelschere montiert werden.

*PA war in der DDR ein Unterrichtsfach ab der 7. Klasse
**Das PMS, heute Unirota Maplan, macht nun dicht. 80 Mitarbeiter werden entlassen. Drei oder vier Leute dürfen bleiben für die Bearbeitung von Gewährleistungsfällen.

Carls Wege

Carl ist seinen Weg gegangen.
Später auch gefahren. Mit dem Automobil.
Er war penibel, hat festgehalten, wie weit er gekommen ist. Zunächst notierte er die Ziele gar auf seiner Wandergitarre. Da war er noch keine zwanzig und hat schon auf dem Bau gearbeitet.

Ein halbes Leben später – alt ist er nicht geworden – führte er ein „Bordbuch“.
Der junge Architekt besichtigte seine Baustellen mit der Limousine. Lübben, Crinitz, Zossen … Das Automobil soff den Kraftstoff wie ein Brauereipferd.

Carl (1898 – 1946) ist nicht sehr weit gekommen. Aber die Gitarre, seine Dokumente und einige seiner Bauwerke gibt es noch heute.
Spuren des Großvaters.

Der Hase aus Gleiwitz

Viele Jahre lag der Löffel ein wenig eingekrümelt in einem der hinteren Besteckfächer, weil Silber nicht in die Spülmaschine gehört.
Ich erinnere mich an frühere Momente, in denen mein Vater seinen kleinen Töchtern am Küchentisch das Häschen zeigte. In Gleiwitz sei dies sein Kinderlöffel gewesen.
Irgendwie hat er noch in den Fluchtkoffer gepasst.
Und nun, achtzig Jahre später?
Silber!
Na und …?
Jetzt werden bei mir die Flocken nicht mehr grob ins Müsli-Schälchen geschüttet, sondern andächtig hinübergelöffelt .
Meister Lampe hat es also in eine neue Ära geschafft.
So ist das mit alten Hasen.

Abgestempelt

Im Archiv der Süddeutschen Zeitung ließe sich u. a. dieser Wortsalat-Satz auf’s Papier stempeln:
Ab 9. November =Biographie / Besonderes =Familie. Sammelakte. Kultur. Weltpolitik. Filmende!

 

Typisierung

Zunächst traf es mich eher oberflächlich: Wieder ein Leukämiefall – wie schrecklich!
Als mich der Aufruf ein zweites Mal erreichte, erkannte ich auf dem Foto das Gesicht von Friederike, hörte ihr schepperndes Lachen und sah plötzlich den Abgrund. Vor mehr als zwanzig Jahren waren wir uns fast täglich begegnet. Jetzt hatte sich ein Stopp-Schild vor ihre Füße gedrängt.
Ein Schritt weiter oder eine unbedachte Bewegung konnten genügen. So mochte es sich anfühlen.
Mit Knochenmarkspenden hatte ich mich noch nie beschäftigt.
„Mit vollen Segeln für Friederike … Du kannst helfen“ stand auf dem Flyer.
Also zog ich los.
„Mund auf. Stäbchen rein. Spender sein.“
Ein knackiger Spruch.
Es würde schnell gehen. Erstmal.

Noch schneller war ich wieder draußen, weil schon ein wenig zu alt für die Typisierung. Die DKMS macht keine Ausnahmen.
Doch meine Zwillingsschwester – ja, mit identischen Gewebemerkmalen! – wusste Rat. Seit Jahrzehnten registriert, würde sie doch spenden, falls  ….
Ja, falls … Irgendwo wird es passen, Friederike!
Möglichst bald.

Spuren im Schrank

Jetzt, da deine Fächer geleert sind, offenbarst du Narben, alter Schrank.
Du hast über zwanzig Jahre Dinge verborgen, die sonst herumgelegen hätten, und wurdest davor jahrzehntelang im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis bestaunt. Doch wer hat vor hundertzwanzig Jahren und noch früher an deinen Griffen gezogen? Welche Kleinigkeiten waren sortiert in der flachen Lade, die jetzt erst die Spuren eines früheren Fächersystems offenbart? Und woher stammt dieses Loch im Filz, ganz am Rand?
Schweigen. So sehr ich auch schnuppere und schaue.

Beim letzten Blick in die dunklen Ecken entdecke ich ein Überbleibsel aus jüngerer Zeit. Eine Foto-Speicherkarte. Die zumindest wird sich entschlüsseln lassen.

Erklärung am Stammtisch

Mein Urgroßvater Fritz Mauch (1856-1928) führte eine Gastwirtschaft in Drefahl, hielt etwas Vieh und versteckte hinter seinem Grummel-Schnurrbart reichlich Humor.
Er liebte die kurzen Wege.
Als er im Stall etwas von der Wand herunterholen, aber keinen Schritt zu viel tun wollte, griff er kurzerhand zwischen den Sprossen einer angestellten Leiter hindurch und schrammte sich die Nase blutig.
Da guckten am Abend die Männer am Stammtisch.
Fritz kam ihren Mutmaßungen zuvor: „Ick heff mien Läben lang nich wusst, dat mien Näs länger is as mien Arm.“

Weltuntergang. Ein Papier-Servietten-Spar-Appell

In der Fastfood-Zone des Einkaufszentrums gibt es auch Nischen, Zweiertische sogar. An einem solchen lümmelt ein Schuljunge, die Ohren mit Bluetooth-Kopfhörern zugeknöpft. Gebannt starrt er auf sein aufgebocktes Smartphone. Da geht gerade was ab. Entweder wird ein Serienheld abgemurkst oder der Weltuntergang steht bevor. Das Kind ist wie versteinert. Nur seine Hände machen einfach weiter, greifen blind nach links, fingern das obenauf liegende Zelltuch vom Papierserviettenstapel, falten es passgenau und schieben es auf die rechte Seite. Dort ist der Fertig-Haufen schon aus der Form geraten.
Der Imbiss-Laden ist sehr beliebt. Seit sich Kunden Servietten auch für später einstecken, braucht die Chefin ihren Sohn fast jeden Tag nach der Schule. Sie ist froh, dass der Junge flink ist. Soll er doch dabei gucken, was er will.