Lemberg / Lviv 2019. Eine Begegnung

R., ein Westfale, der einen Moment spürbar Blickkontakt sucht, platzt beinahe. Die neuen Erkenntnisse pumpen zu viel Adrenalin durch seinen schmalen Mathematiklehrer-Körper. Wenn er hier schon zwei Deutsche trifft, muss er ihnen die Geschichte erzählen. Jetzt. Im Stehen. Vorher einmal tief durchatmen.
Gerade konnte er Stück für Stück das Geheimnis seines schweigsamen Vaters enthüllen. Der hatte seit ’42 im Ruhrpott geschuftet. Als letzter Dreck. Und manchmal hatte er gebrummt, dass der Familienname eigentlich anders geschrieben würde, weil er nun mal aus der Ukraine stammte. Das war alles.
R. weiß jetzt vom Weichheitszeichen hinter dem letzten Buchstaben.
Der Vater, als Zwangsarbeiter gekommen, war nach dem Krieg einfach am deutschen Kohleschacht geblieben. Ohne Kontakt nach Hause. Stalin hätte die Familie des Verräters in die Hölle geschickt. Stillschweigen muss ihm als das Vernünftigste erschienen sein. Dabei blieb es.
Aber an des Vaters Gefühl, nicht dazuzugehören, trugen auch seine Kinder mit.
R. hat die fast verwischten Spuren freigelegt und endlich die ukrainischen Vorfahren in einem Kirchenbuch gefunden.
In Windeseile sprach sich seine Ankunft im Dorf herum, und morgen trifft er sich mit den Cousins.
Nach Hause hat er nur so etwas wie eine Urlaubskarte geschrieben. Dort muss er sowieso alles ganz von vorn erzählen.
Jetzt hat er es zum ersten Mal ausprobiert.