Zum Verbleib von Busfahrscheinen und kleinen Dingen. Ein Alltagsrätsel

Früher hingen halbrunde Drahtkörbe an den Stangen für das Haltestellen-Schild. Heute sollen die abgestempelten Fahrscheine durch eine viereckige Öffnung in einen aschenbechergroßen Metallbehälter gesteckt werden. Das geht nicht einfach im Vorbeigehen, da muss man stehenbleiben und das in der Hand verschwitzte oder während der Fahrt gedankenlos um einen Finger gerollte Ticket durch diesen Einwurf-Schlitz bugsieren. Ist versehentlich ein Geldschein mitgerutscht, gibt es kein Zurück.
Wie wird dieser Behälter aber geleert, nachdem die kippbaren Drahtkörbe ausgedient haben? Ich dachte, ich würde es nie erfahren.
Doch sah ich kürzlich ein winziges Gefährt, das eher nach einem vierrädrigen Schränkchen mit Fahrerkabine aussah, an einer Haltestelle stoppen. Ein Mann in signalfarbener Latzhose sprang heraus, zückte vor dem Fahrscheinkästchen einen Schlüssel und ließ den Inhalt in einen Eimer fallen, Klappe zu, Eimer im Schränkchen geleert, wieder eingestiegen, weiter.
Nach Geldscheinen hat er gar nicht geguckt.

 

 

Eine Straßenszene

Null Grad. Sieben Frauen meditieren auf dünnen Decken im Lotussitz. Hochkonzentriert und doch tief in ihr Inneres versunken, mit einer Körperspannung, der Kälte, Straßenbahngeräusche und Passantengeplauder nichts anhaben können.
Sie sind ganz bei sich.
Vielleicht in einer anderen Welt. Oder eben gerade nicht.
Loslassen können, das sagt sich so leicht. Die Frauen tun es einfach. Entrückt, reduziert und konzentriert scheinen sie stärker zu sein als alles auf der Welt.
Das ist nur ein Eindruck, daher klärt ein Transparent in der Nähe auf. Die Übungen, die enorme Anziehungskraft der Idee und deren brutalste Verfolgung weit ab vom heimischen Straßenpflaster sind hier mit wenigen Worten und eindringlichen Fotos skizziert. Wahrhaftigkeit. Güte. Nachsicht. Sind das nicht archaische Werte, die etwas Rettendes in sich tragen? Mehr als nur für die Gesunderhaltung des Einzelnen?
Ein Mann kommt des Weges, stützt sich auf seinen Stock und sagt, dass er jetzt 91 sei und dass die Welt sowieso untergehe.

Und nun?

Bockspringen

Die anderen Kinder konnten das alle. Wir waren neu an der Schule und hatten es nie gelernt.
Anlaufen – Abstützen – Abspringen!
Hinter dem Bock lag eine Matte.
Das sah so leicht aus. Ich aber guckte lieber zu, als dass ich mich hinüberbemühte. Meiner Schwester ging es ähnlich.
Irgendwann gab es eine Leistungskontrolle.
Ich rannte dem vierbeinigen Braunen entgegen, trat auf das Sprungbrett und hoffte auf ein Wunder.
Immerhin konnte ich den Kopfsprung. Sogar vom Ein-Meter-Brett! Vielleicht segelte ich deshalb bäuchlings über das Leder, knickte ab und purzelte auf die Matte. Hauptsache, ich war angekommen.
Dann war meine Schwester an der Reihe. Sie nahm das Vieh fest ins Visier, gab Gas, erreichte den Bock, setzte die Hände auf und sprang mit der Wucht einer entfesselten Zehnjährigen in andere Sphären. Wie ein Geschoss flog sie ihre Bahn, hoch über dem Leder und ein Stück über die Matte hinaus.
Seitdem galt bei uns: Der Wille macht’s!

Der Silvesterkarpfen

 

Sie:        Ich hätte früher nie gedacht, dass ich mal den Kopf essen würde. Aber seit Oma nicht mehr ist …
Er:          Das sagst du jedes Jahr.
Sie:        Wo hat so ein Karpfen nur die vielen Gräten her?
Er:          Das ist evolutionsbiologisch …
Sie:        Weißt du noch, was der Rainer erzählt hat?
Er:          Dass er eine Gräte im Hals hatte?
Sie:        Und was für eine! Die musste ihm doch rausgeschnitten werden!
Er:          Schlimm.  Auch das Warten in der Notaufnahme!
Sie:        Sowas lieber nicht.
Er:          Geb’s Gott!
Sie:        Guck! Da ist das Knöchelchen fürs Portmonee.
Er:          Dann musst du die alten alle mal aussortieren.
Sie:        Damit das Geld nie ausgeht. Prost!
Er:          Prost Neujahr!

Wartezeit

Ein Positiver in der Nähe
genügt
für sieben Tage Warte-Zwang
in quälendem Abstand.
Sieben Tage, in denen
eine kleine Welt erstarrt,
weil behutsames Miteinander-Sein
gerade jetzt das Wichtigste gewesen wäre.
Aber so lehrt es die Vernunft:
Es hätte schlimmer kommen können.

Frohe Weihnachten!

Vermächtnis

Verliebt.
Verlobt.
Verheiratet.
Ein Sohn.
Vermasselt.
Geschieden.
Verschanzt.
Fast versauert.
Neu verliebt.
Vergnügt
verschmolzen.
Verplaudert.
Verschätzt im
verminten Gelände.
Verglüht, irgendwann.

Verblieben – der Sohn:
Verliebt …

Karin (1939-2021). Ein Nachruf

Wie gut, dass du dich immer erinnern konntest. Und dass es dir eine Freude war zu erzählen. Manchmal fürchtete ich gar, zu viel zu fragen. Oder zu heikel. Doch dann hast du schelmisch gelacht, klare Worte gesucht und mit tiefer Stimme jeder Silbe einen Akzent gegeben. Es wurde dir nicht über.
Das ganze Leben konnte wiederauferstehen, auch das alte Labor. Lebensmittelkontrolle im Bezirkshygieneinstitut. Was habt ihr da nicht alles auf den Tisch bekommen! Kleine Happen, winzige Proben, Löffelchen voll mit irgendwas und Getränke natürlich. Sehen, riechen, schmecken und geschickt hantieren mit dem siebenten Sinn. Wie gut du gerade das gekonnt hast! Mit allen Wassern warst du gewaschen.
Und der Rauch? Der hat sich schließlich gelegt. Er fehlte dir dann nicht einmal mehr.
Wie stark, habe ich gedacht. Und es auch gesagt.
Vieles jedoch brauchte gar keine Worte.

Das Wesentliche

Der Croy-Teppich. Er wird an einer Wand hinter Glas präsentiert und zählt zu den Highlights des Pommerschen Landesmuseums. Das Licht im Saal ist so weit gedimmt, dass die Szenen zunächst kaum zu erkennen sind. Doch irgendwann gewöhnt sich das Auge und geht auf Entdeckungsreise. Im nächsten Raum sind die Raffinessen der Teppich-Rückseite durch Guck-Löchlein mittels einer cleveren Lupentechnik zu sehen, hell und deutlich. Wieder zurück im verdunkelten Saal lockt ein geknüpftes Bild-Werk auf der anderen Seite, doch plötzlich … ein kolossaler Schmerz im Schienbein! Die Welt steht kurz Kopf – bis zum allmählichen Wiederaufrappeln. Was war das? Eine lange, massive Hocker-Bank!
Welche Überraschung!
Dann gibt es also im Halbdunkel vor dem Croy-Teppich eine Sitzgelegenheit. Obwohl man sogar ehrfurchtsvoll würde niederknien wollen.
Wie auch immer.
Wer hier jedenfalls keinen Blick für das Wesentliche hat, geht stolpernd zu Boden.

Lebensdaten

Drei Tage nach der Geburt ihrer Tochter, am 8. Nov. 21, ist Margarete Warnecke gestorben. Ihr gemauertes Grabmonument steht wie eine Festung auf dem Schweriner Alten Friedhof. Vor wenigen Tagen stolperte hier ein imaginäres Rädchen über die Hunderter-Schwelle.
Wer darüber nachsinnt und rechnen mag, sieht an vielen Gräbern kleine Zählwerke, denen aber alles präzise mitgegeben wurde.
Stand bei den Warneckes die reduzierte Jahreszahl für eine schicke Verknappung auf das Notwendigste? Oder war dem Gatten Eberhard das alte Jahrhundert zu abwegig und das nächste fern genug?

Wer jedenfalls ’83 geboren wurde, hätte ’21 noch das halbe Leben vor sich haben sollen. Das sieht man hundert Jahre nach Margarete auf den ersten Blick.

Kunstnacht

Ein Geiger, der malt und seine Fans immer wieder überrascht.
Ein Friseursalon, der für eine Nacht zur Galerie wird.
Ein Kontrabassist, der zum Dienst eilt – durch jene Gasse, in der die Leute verkleidet auf dem Straßenpflaster tanzen.
Der Geiger lockt den ahnungslosen Kontrabassisten herein:
„Ich bin dem Streichen treu geblieben.“
„Und ich hab keine Zeit.“
Überall stehen Bilder. Sinnlich und eigen. Ein Stillleben mit Rotweinglas, in dem sich das Licht stimmig fängt, lässt den Bassisten zusammenzucken.
„Das da!“, flüstert er hinter seiner Maske. „Heb‘ es für mich auf, ich ruf‘ dich an.“
Schon ist er weg.
„Das wollte ich auch!“, jammert die Friseuse.
Zu spät.