Unterwegs ohne Rosi

Hans muss zu Rosi ins Krankenhaus und ihr den Rollator bringen. Ohne kommt sie dort doch gar nicht zurecht! Er bugsiert das Gefährt in die Straßenbahn und freut sich, als ihm eine junge Frau gleich ihren Platz anbietet. Nein, er wird hier niemandem sagen, dass er noch ganz gut zu Fuß ist. Es ist schön, sitzen zu können.
Aber zum Fahrscheinautomaten muss er trotzdem!
Herrjeee …  er will kein widersprüchliches Bild vermitteln. Vielleicht versucht er, wenigstens ein bisschen zu wackeln auf dem Weg? So zum Beispiel …?
Und auf dem Rückweg auch.
Vorsicht! Gleich kommt die lange Kurve.
Helfende Hände stützen ihn.
Da ist sein Platz. Rrrrrrummms. Angekommen.
Gerade so.

Die Diebstahlsicherung

Lydia hat ihr Mountainbike – ohne es anzuschließen – abgestellt und nur schnell eine Flasche Wein gekauft. Immerhin ist sie jetzt sechzehn.
Auf dem Rückweg sieht sie schon von weitem: Da stimmt was nicht. Hat doch jemand seinen Hund an ihrem Fahrrad angebunden! Kein Schoßhündchen, sondern ein zotteliges Riesentier, das aus der Dachrinne schlürfen könnte, sollte es sich auf die Hinterbeine stellen.
In Lydias Kindheit waren alle großen Hunde scharf. Als kleines Mädchen war sie also immer schnell wieder weg gewesen, wenn so einer gerade nicht an der Kette lag.
Sie ist wütend. Es kann aber nicht lange dauern. So ein Tier hat ja auch keine Zeit.
Also abwarten.
Ein Eis essen.
Auf die Uhr gucken.
Wieder zum Hund schauen.
Plötzlich bindet ihn ein Typ mit einem Fleshtunnel im Ohrläppchen los.
Nun traut sich Lydia.
„Das ist mein Rad.“
„Dann pass nächstes Mal einfach selbst drauf auf.“ Er grinst.

Cool, findet Lydia. Wenn der nur nicht so einen großen Köter hätte …

 

 

Abgehauen

Am Marienplatz kreuzen sich die Wege. Getriebene, Müßiggänger und Radfahrer müssen aneinander vorbei und dabei immer noch die sich nähernde Straßenbahn oder den Bus im Blick haben.
Ein langer Lulatsch schwankt wie ein Betrunkener rück- und vorwärts. Da kommt sein Bus.
Er stolpert zur Einstiegstür und verfehlt die Stufe.
Als er die Arme reckt, um Halt zu finden, wird ein grünes Plastebändchen an seinem Handgelenk sichtbar.
„Wollen Sie nicht lieber zurück in die Klinik?“, fragt eine Frau.
„Ich?“ Er kriegt einen Griff an der Tür zu fassen. „Bin doch da … “ , er zieht sich hoch, „grad erst …“, er schleudert sich herum auf einen Sitz, „… abgehauen!“ Erfolgreich. Bis hier jedenfalls.

Nachrichten aus Barth

Im Barther Flüchtlingsheim gab es einen Mord.
Die Zeitungsfotos von der Straße mit den DDR-Plattenbauten sind genau dort entstanden, wo ich vor zwei Jahren mit einer jungen Familie unterwegs war, um über sie zu schreiben.
Ich wollte alles verstehen: ihre Flucht, ihre Träume, ihre Möglichkeiten.
Was ich sofort spürte, war ihre Angst.
Ich weiß nicht, ob die drei aus der Nähe erlebten, was in ihrer Nachbarschaft geschah. Spätestens, als Polizeifahrzeuge die Straße in ein anderes Licht tauchten, wird die Nachricht bei der Familie angekommen sein: Ein Marokkaner hat seine Frau erstochen.
Ich sehe das versteinerte Gesicht der jungen Mutter, die ich kennengelernt hatte. Sie wird ihrem Kind die Haare kämmen und hoffen, dass es von all dem nichts mitbekommen hat.

Ein Parcours am See

In der Nähe gibt es eine Schule. Da passiert so manches, an dem das Umfeld teilhaben kann.
Nun hängen Zettel an den Bäumen zum See. In ungelenker Kinderschrift fordern sie alle zwanzig Meter zu einer neuen Mutprobe heraus.
Über ein Hindernis soll gesprungen werden. – Kein Problem.
Kastanienzielwurf? – Konnt‘ ich schon immer!
Aber dann – Schlangenessen?! Und vorher „Augen ferbinden“? Hilfe!!!

Sollte ich mich auf diesem Kanal nicht mehr melden, ist etwas schiefgegangen.

 

Die Faszination von Mausoleen

In Lenins Mausoleum bin ich nie gewesen, wohl aber bei Dimitroff, damals in Sofia. Da war er noch keine 30 Jahre tot. Das von Spots gezielt beleuchtete Gesichtchen über dem steifen Kragen war beim Vorübergehen kurz zu sehen gewesen. Präsenter war die Absperrkordel. Als ich mich bemühte, an etwas Feierliches zu denken, waren wir schon durch. Was sollte solch eine einbalsamierte Hülle auch preisgeben? Dimitroff hatte genug hinterlassen, was schlichtweg nachzulesen war. Natürlich.
Jetzt stehe ich an Ötzis Eiskammer, habe ihn hinter der Sichtscheibe – unbekleidet – recht nah vor mir und gucke mich an seinem Ellenbogen fest, auf dem ein Tröpfchen festgefroren ist. Vor 6000 Jahren hat er gelebt. Heute weiß man von seinen Gefäßverkalkungen und seiner Laktoseintoleranz und hat auch die Pfeilspitze, die ihn tödlich getroffen hatte, gefunden. Ich kann mich ehrfürchtig sattsehen – kurz vor Schließung des Museums, also der besten Besuchszeit. Denn auch in Bozen gibt es tagsüber Warteschlangen – wie in Moskau und damals in Sofia*. Die Kombination von Tod, Konservierung und Forscherdrang weckt bei vielen den Wunsch, ganz nah ranzugehen und innezuhalten.

* Dimitroff wurde im Sommer 1990 eingeäschert, sein Mausoleum 1999 gesprengt.

Pflaumen

Opa ist heute Pflaumenbote und fährt mit dem Bus. Jede Pflaume ist so groß wie eine Kinderfaust. Frisch vom Baum gepflückt hatte Opa mehrere Kilo in eine Tüte geschichtet. Nun umfasst er den Obstsack auf dem Schoß mit beiden Armen und versucht, die kleinen Erschütterungen während der Fahrt abzufangen. Beim Ampelrot stöhnt der Motor auf wie in einer Vorahnung. Zwei Pflaumen machen sich selbstständig und fluppen durch einen winzigen Riss in der Tüte. Opa neigt sich zum Gang und hebt die eine auf, während die andere kurz vor der Haltestelle von einer Ahnungslosen zerlatscht wird. Am nächsten Halt muss auch Opa aussteigen. Da er den tellergroßen Matsch nicht im Bus lassen kann, kickt er ihn gezielt in den Rinnstein und tritt erleichtert die zwei Stufen hinab.
Ist ja alles nochmal gutgegangen, denkt er.
Da prasselt ein ganzes Pflaumengeschwader auf die Straße. Was dort liegt, ist verloren.
Irgendwann hat Opa beide Hände frei, um sich am Kopf zu kratzen.

Historische Momente

Im Fotogeschäft gibt es einen Räumungsverkauf. Alles muss raus. Wahrscheinlich wird der Laden neu vermietet. An der Hofeinfahrt lehnen edle Paneele mit jeweils zwei gucklochähnlichen Messingringen. Es könnten auch sehr spezielle Schranktüren sein. Aber wozu sollte man durch die hindurchschauen? Und was gab es dann zu sehen?
Die ganze Welt, sagt die Ladeninhaberin!
Doch werde die nun gerade aus dem Haus getragen.
Noch nie hatte ich ein Kaiserpanorama im Original gesehen. Dieses hier hatte einst der Urgroßvater der jetzigen Besitzerin betrieben. Auf zahlreichen historischen Stereofotos, die auf einer Glasplatte Dreidimensionalität suggerieren, lassen sich Skurrilitäten und Szenen aus fernen Ländern präsentieren. Wenn das große Holzrad, auf das die Fotos gesteckt werden, gedreht wird, erleben die Herrschaften vor den Gucklöchern „photoplastische naturwahre Rundreisen“.

Nein, das Kaiserpanorama werde natürlich nicht verramscht. Vorsichtig in Decken gehüllt darf es jetzt eine Weile zerlegt ausharren, bevor es anderswo wieder aufgebaut wird, um Neugierige zu verblüffen.