Kaum zu glauben

Man stelle sich vor:
Die Zahnprothese liegt in ihrer Dose.
Die Dose liegt auf der Waschmaschine.
Die Waschmaschine schleudert.
Sie schüttelt sich sogar. Ein wenig.
Die Dose fällt herunter und öffnet sich.
Der Hund kommt.
Er knackt die Prothese und verschlingt sie.
Die Frau kann’s nicht fassen.
Sie wartet.
Es gibt einen natürlichen Weg.
Einmal durch den Hund hindurch.
Das dauert.
Dann tauchen die Reste der Prothese wieder auf.

Alle weiteren Details sind in der Ostseezeitung nachlesbar.

Die Petersens. Ein Geschwister-Konzert

Ein Vater hatte zwei Töchter. Und vier Söhne auch.
Er war bekannt in der Stadt. Ließ er doch als Kantor den Domchor zu einem Refugium für Unangepasste werden. Kirchenliedersingen war auch ein bisschen Rebellion zu DDR-Zeiten.
Seine Kinder lernten früh Klavier, Geige, Cello, Horn und Fagott. Im Saal der Bezirksmusikschule spielten sie im Schülerorchester.
Heute konzertieren sie auf den großen Bühnen der Welt.

Auf dem Grab des Vaters, des Landeskirchenmusikdirektors a. D., überragt eine Orgelpfeife den Stein.
Fast gibt es für die Töchter und Söhne keinen Grund mehr, in die Heimatstadt zu fahren. Nun aber doch. Für ein Geschwister-Konzert.
Bei der Generalprobe mit dem Erwachsenenorchester der Musikschule platzt der alte Saal aus allen Nähten. Auch Emotionen können raumgreifend sein. Und Erinnerungen. Irgendwie ist selbst der Vater präsent.
Beim großen Konzert am Tag darauf – erst recht.

 

Das Geheimnis

Es gibt Geheimnisse, die irgendwann flügge werden. Und es gibt Vertraulichkeiten, die unverrückbar sind. Grete und Tilda waren einander vertraut gewesen, nach der Wende ganz besonders. Tilda fühlte sich immer besser, wenn sie sich mit Grete ausgetauscht hatte, und sie spürte deutlich, dass es sich bei der Freundin ebenso verhielt. Jahrelang. Ehemänner, andere Männer, Kinder, Katzentod – es ging immer um alles. Alle zwei Wochen meistens.
Dann sagte Grete ab, nahm kein Telefonat mehr an, reagierte nicht mehr auf Post. Einfach so. Ein einziges Mal schrieb sie noch, dass Tilda sich nicht mehr bemühen sollte. Sie sei jetzt in einem anderen Leben.
Seltsam.
Tilda hat nie erfahren, was in Gretes neuem Leben wirklich anders war. Außer dass sie nicht mehr darin vorkommen sollte. Weil sie aber wusste, wie verlässlich Grete in allem war, zog sie einen zittrigen Schlussstrich. Vielleicht würde das Geheimnis, das Grete um ihr neues Leben machte, doch noch irgendwann flügge werden.

 

Die Heilige Rita

Lina ist nicht besonders fromm. Wenn sie aber in einer fremden Stadt ist, drängt es sie, den Liebsten ein Licht anzuzünden. In der Martin-Luther-Kirche von Świnoujście standen für ein paar Münzen Teelichte bereit. Während Lina sich bemühte, ein altes Flämmchen kurz vor seinem Erlöschen abzuschöpfen, griff eine knochige Hand ihren Arm.
„Czy pani mòwi po Polsku? Oder sprechen Sie Deutsch?“
„Warum?“, fragte Lina.
„Weil Sie doch wissen müssen, wer helfen kann!“
Die Alte deutete zum Bildnis der Heiligen Rita.
In 88 Lebensjahren sei immer SIE es gewesen, die half, wenn es ganz schlimm gekommen war. Sie hatte Beispiele und holte weit aus.
„Cicho!“, kam es mehrfach aus der Kirchenbank. Ruhe!
Da ließ die Frau Linas Arm los.
Lina suchte einen Platz für ihre Kerze und vergaß dabei, an ihre Liebsten zu denken.

Am Abend las sie über die Heilige Rita. Sie also ist die Schutzpatronin der Metzger und derer, die sich in Nöten befinden, Examensängste haben oder von Pocken geplagt.

Eine Lehre

Das Wort Schiebelehre zerging ihr auf der Zunge wie eine Leckerei aus der Kinderzeit. Doch beim Nachdenken, wie diese Lehre wohl aussah, schummelte sich nur der alte Rechenschieber in ihre Erinnerung.
Im Werkzeugschrank ihres Vaters, in dem auch Schätze des Großvaters gehütet wurden, sollte sie die Schiebelehre suchen. Weil sie doch sowieso gerade in Vaters Keller war.
Es hieß, mit einer Schiebelehre ließe sich alles messen – innen und außen.
Das klang verheißungsvoll.

Da war es doch: das Schiebepräzisionswunder des Großvaters!
Ein oller Messschieber. Das Rädchen machte nicht gleich mit.

Dass sie sich manchmal in ein Wort verlieben konnte …!

 

 

 

Am Weg

Es ist spät. Dunkel. Die Stadt spart an der Beleuchtung. Ella hat sich daran gewöhnt. Das Fahrradlicht genügt ihr. Georg fährt vorweg, er ist gleich zu Hause. Sie wohnt ein paar Straßen weiter.
„Hier ist jetzt eine neue Auffahrt zum Bürgersteig“, ruft er ihr zu.
Sie kurvt nach ihm über die geteerte Mini-Rampe, die sie längst kennt. Jedes Mal hatte sie gedacht:  Wie clever!
„Die hab‘ ich aufschütten lassen, als die Straße erneuert wurde“, erzählt er und dreht sich um auf seinem Fahrrad. „Das haben die dann einfach so mitgemacht.“
„Da ist man ewig stolz drauf“, sagt sie lachend. „Ich habe auch mal einen Verkehrsspiegel bei uns an der Straße durchgesetzt.“
„Und da guckst du jetzt immer hin!“
„Jeden Tag.“

Manches im Leben ist ganz leicht.

Vor der Buchpremiere. Backstage

Es war der Moment, in dem alle schon Platz genommen hatten und die letzte Minute anbrach. Mit ihr kam mir ein milder Zweifel an meiner Kondition und Konzentration.
Half da nicht immer Traubenzucker?
„Johannisbeere. Minis“ hatte ich in meiner Tasche. Überraschenderweise war die Packung extrem lange abgelaufen, die Zuckerstückchen hatten sogar Pickel!
Oder sahen die immer so aus?
Eine absurde Situation.
Ich ließ das Päckchen wieder in die Tasche rutschen, ging den Weg zum Bühnenpodest und hatte die ersten Sätze dieses Minutentextes schon im Kopf.

HERZKASPERTHEATER. Kurzgeschichten

Die zwanzig Geschichten, lebensprall und kurzweilig, entführen in Welten, die gerade ins Wanken geraten sind. Im Klassenzimmer, Provinzbahnhof, Kleinflugzeug, auf der Theaterbühne oder auch im Pflegebett kommt es zu Eskalationen.
Die Titelgeschichte streift die Balance zwischen Albtraum und Ehefrieden, nachts. Herzkaspertheater.
Anderswo geraten ein Bratschist, eine Hausbesetzerin, ein Radiomoderator oder gar eine Dorfgemeinschaft aus dem Gleichgewicht. Und manche Erzählung holt alte Zeiten zurück: Plötzlich riecht es wieder wie damals in der Penne, Breschnew liegt aufgebahrt in Moskau und das Leben sollte doch gerade anfangen. Immer kommt alles anders.

Die Buchpremiere wird am 31.03.23 um 19:30 Uhr in der Schweriner Stadtbibliothek gefeiert. Musikalische Begleitung: Klaus Gebauer, Cello.