Schabbach. Hinter den Kulissen von HEIMAT

Schabbach gibt es nur im Film.
Der Drehort heißt Gehlweiler. Hier können Fans von Edgar Reitz auf Spurensuche gehen.
Ich bin also eingetaucht in die Welt der tiefen Zimmerdecken, unter denen die Sehnsüchte schmerzhafte Kreise ziehen.
Zunächst ist im Ort nichts wiederzuerkennen. Doch hat das Dorf im Hunsrück einen kurvigen Straßenabschnitt mit einer alten Schmiede und ein paar Wohnhäusern, vor denen nun Fototafeln aufgestellt sind. Die modernen Fassaden wurden 2012 für die Drehzeit des Films DIE ANDERE HEIMAT vollständig verkleidet und die Straße zu einer Suhle aufgeschüttet und breitgefahren.
So entstand eine Kolonie benachbarter Höfe mit lehmverputzten Fachwerkhäusern und einem matschigen Fahrweg, über dessen tiefe Spurrillen das Federvieh flattern konnte, als sei man im Jahr 1843.
Vier Monate haben die betroffenen Bewohner Gehlweilers hinter den Potemkinschen Fassaden ihr eigenes Leben irgendwie weitergeführt. Wenn es passte, haben sie mitgespielt.

* DIE ANDERE HEIMAT: Chronik einer Sehnsucht.

Zwei Hornissen. Vielleicht auch drei

Zum Ende der Orchesterprobe sind alle etwas träge. Doch der Dirigent lässt noch nicht locker. Er holt mit beiden Armen aus, verharrt und tupft kurz und heftig Akzente in die Luft. Jeder hat seinen, sobald er dran ist. Reihum.
Sein Blick bleibt plötzlich am Kronleuchter hängen – zunächst nur neugierig. Dann lässt er die Arme sinken.
Nach und nach wenden sich die Köpfe der großen Lampe zu. Geigenbögen werden abgelegt. Eine Bratschistin zieht den Kopf ein. Stille – für ein paar Sekunden, in denen ich nicht herausfinde, ob sich da oben vielleicht die Decke aufgetan hat, wofür auch immer. Ich sitze nämlich gerade ungünstig und sehe gar nichts.

Was dem Einen das Herz in die Hose jagt, muss der Anderen erstmal genau gezeigt werden.

 

Heinrich Roller

 

Stenografie wollte ich eigentlich vor dem Studium gelernt haben – so wie mein Vater, der heute noch alles Wichtige zunächst in Kurzschrift verfasst. Das geht schnell und spart Platz.
Ich habe mich dennoch nie mit Steno beschäftigt. Es ging auch ohne.

An diesem Grab in Berlin irritierte mich zunächst die echte Vogelfeder, die jemand in den Kiel gesteckt hatte. Dann erst erfasste ich ihren Sinn. Die vor dem Grabstein stehende Muse scheint gerade einen Abbreviationskringel setzen zu wollen.
Heinrich Roller war einer der Väter der Stenografie.

 

Der Schriftputzer. Teil 2*

Der Schriftputzer meiner Großmutter (1903-1983) dient jetzt der TippStelle von Frank Osthoff, Köln. https://biskuitrollerückwärts.de/

*Teil 1 ist am 6. Februar 2020 im NotizBlog erschienen.

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Der Schriftputzer. Teil 1

Meine Großmutter konnte Schönschrift. Nach ’45 entdeckte sie eine Marktlücke, schrieb – wie gedruckt – Erbauliches auf harte Pappen und klebte Schlaufen auf die Rückseite. So brachte sie sich und die beiden Kleinen durch.
Maschineschreiben konnte sie auch. Für’s Kontor und für die Leute, wenn jemand mal was getippt haben wollte.
Als ich endlich an ihre Schreibmaschine durfte, hat sie gesagt: „Besser gleich mit zehn Fingern!“ Irgendwann ging es. Ihre „Erika“ schrieb immer sauber, es gab keine verrutschten oder schmutzverklebten Buchstaben. Das war eben so bei meiner Großmutter.
Jetzt weiß ich auch, warum! Die Reinigungsknetmasse „Schriftputzer“ für siebzig Pfennige lag noch bei ihren Sachen. Langsam wird das rotbraune Stück warm in meiner Hand. Wie man es richtig auf die Typen legt, um diese vom Farbschmutz zu befreien, steht in der Beschreibung. Der geknitterte Zettel, der seit Jahrzehnten um die Knete gewickelt war, fühlt sich inzwischen wie Ölpapier an.

Ich habe heute wieder etwas von meiner Großmutter gelernt, fast vierzig Jahre nach ihrem Tod.

Abfall

„Das sollt ihr doch nicht“, schimpft die Frau aus der Hagenower, „das ist Wurstpelle! Die kriegt ihr im Leben nicht verdaut.“ Dass sie mal ein Bauernhofkind war, ist noch herauszuhören.
„Ich komm jetzt mit dem Stock. Geht ja nicht anders. Wenn die Möwen sowas herschleppen?“
Sie stochert zwischen den Platschfüßchen nach der Pelle, aber da findet sich kein Loch zum Festmachen.
Viel länger als der Stock ist der ausgewachsene Schwanenhals. Und jetzt nähert sich schon der fauchende Schnabel.
„Du bist ja wie unser alter Ganter!“, staunt die Frau und richtet sich langsam auf.
„Ein Ganter ersetzt den Hofhund“, lacht sie dann und macht sich ganz groß.
Alle machen sich groß.

Und plötzlich hat die Frau die Pelle doch noch erwischt.

Kleines Fest im großen Park. Bei Benno und Max

An der Grotte traut sich niemand freiwillig auf die Bühne. Benno und Max sind World Champions unter den Jongleuren. Jeder Gast kann da als Dritter nur alt aussehen, egal, womit jongliert wird. Also lieber auf die Schuhspitzen gucken und unsichtbar bleiben, um nicht nach vorn gerufen zu werden!
Eine Dame aus der ersten Reihe wird dennoch auserkoren. Schon steht sie für eine challenge zwischen Benno und Max. Es geht um knackige Äpfel. Wer ist schneller beim Verschlingen? Die Frau bekommt einen Apfel, Max drei. Die Frau soll nur drauflos futtern, Max aber jonglieren! Und dabei muss er das fliegende Obst verspeisen.
Der countdown läuft.
Start.
Eine Minute haben sie Zeit.
Die Frau beißt viel zu groß ab, es gibt kein Zurück, sie kaut tapfer.
Bei Max spritzt es. Die Äpfel kreisen, in jeder blitzschnellen Runde lässt das Obst Federn oder Fruchtfleisch oder wasweißich. Es ist nicht zu erkennen, wie Max kaut und wie er schluckt und wie er atmet und wie er wirft. Aber die rotierenden Äpfel werden allmählich zu kantigen, feuchten Griebschen. Benno feuert an. Noch zehn – fünf – drei Sekunden. Stopp!

Sie sind Kavaliere: Die Frau hat gewonnen. Während auf der Bühne inzwischen glitzernde Diabolos hin und her schwingen, kaut sie in der ersten Reihe noch lange an ihrer Apfelmahlzeit.

https://bennoundmax.de/

 

Und täglich grüßt das Murmeltier. Morgens

Auf dem Weg treffe ich immer dieselben Menschen. Meist sogar in der gleichen Reihenfolge. Zunächst kommt mir an der Chaussee auf ihrem roten Fahrrad die kleine Blonde entgegen, die es jedes Mal schafft, zuerst zu grüßen und dabei ein kleines Glücksgefühl entfacht, weil die kurze Begegnung verlässlich durchwärmt. Nie haben wir Zeit für einen Satz mehr.
Momente später treffe ich unten am See den Lässigen, der freihändig, mit durchgedrücktem Rücken in die Pedale tritt. Er sieht nicht mal hoch von seinem Smartphone. Nie – an dieser Stelle.
Am kleinen Trampelpfad, der zum Wäldchen hinaufführt, muss ich meist absteigen. Die Schülerin mit den fetten Kopfhörern hat kein Ohr für mein Klingeln. Jeden Morgen bin ich eine Überraschung für sie.

Nachmittags ist alles anders.

 

Die Jacke von B. – R.I.P.

Dass sich die derbe Herren-Lederjacke so eng zusammenfalten ließ! Sicher, sie ist eingesunken und stumpf geworden und sieht fast nicht mehr echt aus, eher wie eine kunstvolle Sandskulptur. Doch der Druckknopf am Stehkragen und die breiten Reißverschlüsse an den Brusttaschen sind noch sehr real, auch das Futter, das durch eine aufgerissene Seitennaht gedrungen ist. Das grünfeuchte Leder unter der Staubschicht mag einst kaffeebraun gewesen sein.
Irgendwann wird man sich fragen, was da wohl liegt auf dem Grab von B.
Er ist vor dreizehn Jahren gestorben.

Florian Michel

Mittsommerabend in Manchester. Der Pub ist gut besucht. Neben mir wird etwas Großes auf der ledergepolsterten Sitzbank abgeladen. Nein, ich schaue da jetzt nicht hin. Ich hab meinen eigenen Tisch, meinen Drink, meinen Burger und meine Begleitung. „Cheers!“
Irgendwann geht mein Blick dann doch nach links. Da posiert ein metallener Recke auf seinem Sockel und spielt mit den Muskeln, als wäre er ein kleines Denkmal. Oder eine Trophäe. Ich denke an Flohmarkt und Staubwedel. Sowas hätte ich nie irgendwo mitgenommen.
Der Besitzer und seine Begleiterin flüstern. Auf Deutsch.
Ich gucke beide und das Kerlchen jetzt unverhohlen an. Neugierig bin ich ja doch!
„Ist der echt?“ Wie dumm gefragt von mir!
„Na klar“, freut sich der Besitzer. „Ich bin gerade Worldchampion im Natural Bodybuilding geworden.“
So sieht er gar nicht aus in seinem Hoodie. Aber seine Haut ist noch sonnenbraun geschminkt, auch seine Hände.
Was das Besondere am Natural Bodybuilding ist, erklärt er mir ganz genau.  Er nimmt keine unterstützenden Medikamente.
Wahnsinn!
Dann will ich noch wissen, wie er heißt.
„Ich bin der Flo.“