NOTIZEN AUS VENTSPILS. Māra Zālīte

In der Hausbibliothek liegt der autobiografische Roman von Māra Zālīte. In Lettland hat er Preise gewonnen, in Deutschland fand sich lange kein Verlag für die Übersetzung. Ich nehme mir den abgehefteten Computer-Ausdruck und tauche ein in die lettische Familiengeschichte.
Die kleine Laura kehrt mit den nach Sibirien verschleppten Eltern in deren Heimat, Lettland, zurück. Also in die lettische Sowjetrepublik. Die übergroße Vorfreude mündet in neue Ängste,  Denunzationen und Zwänge.

Die Autorin war auch hier, in Ventspils.
Dann höre ich in der Gemeinschaftsküche: Wirklich jede Familie hat Deportationen nach Sibirien erlitten. Māra jedoch zählt zu denen, die darüber geschrieben haben.
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NOTIZEN AUS VENTSPILS. Nachtlichter

Auf der riesigen Fläche vor dem Konzerthaus stehen tagsüber ein paar Masten, manche etwas schräg, andere wie im Lot in eine Höhe aufragend, die nur ein guter Weitwinkel ganz erfasst. Erfrischende Wasserspiele glucksen und tropfen, sprühen und plätschern hier und da – in jenem Ventspil-typischen Humor, den ich am abgestellten Regenschirm schon wahrgenommen hatte. Der wird nämlich nur von innen nass.
In der Dämmerung fügen sich die Masten zu einem Schiff …

Auch das Tintenfass steht nicht ganz im Dunkeln. Nachts werden die Federn in Licht getaucht.

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Kuldiga

Bis 1945 war die St. Katharina Kirche in Kuldiga das Gotteshaus der deutschen Gemeinde.
Der Pastor bereitet sich gerade auf seine Predigt vor, auf Lettisch natürlich, eine Stunde hat er noch. Er ist deutsch-baltischer Herkunft, sein Vati hat noch richtig gut Deutsch gesprochen. Die Russen trauten ihm nicht. Sie steckten ihn in ein sibirisches Straflager. „Schwere Geschichte“, sagt der Pastor erregt, „von sechs Männern sind fünf gestorben. Vati war stark, er war der Sechste, er kam zurück.“ Was aber hieß das dann noch – stark gewesen zu sein – nachdem das Lager ihm alles genommen hatte … Er hat seinen Schmerz, seine Sensibilität und viele deutsche Worte an seinen Sohn weitergegeben, der später in der Lettischen Sowjetrepublik geboren wurde. Manchmal, wenn dieser Sohn, der Pastor, deutsche Stimmen hört, freut er sich auf ein Gespräch. Dann gräbt er in der Familiengeschichte und kommt bis zum Urgroßvati und zur Urgroßmutti.

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Gegensätze

Am Kap Kolka, wo die westliche Brandung auf die Strömungen aus der Riga-Bucht trifft, stolpern schaumgekrönte Wellenkämme übereinander wie quietschvergnügte Welpen. Linksseitig braust der Sturm. Rechterhand, einmal um die Ecke, liegen die toten Bäume von der letzten großen Sturmflut in sonniger Stille am Strand.

Sonntagnachmittag

Sie:               Huuuuuch? … Der Federball!!
Er:                 Nun ist er weg.
Sie:               Auf dem Carport.
(Er hakt die Leiter aus der Verankerung).
Kind:            Ich will da zuerst hoch.
Er:                 Lass mich erstmal gucken.
Kind:            Vielleicht ist er hinten runtergefallen.
Sie (läuft rum):          Ist er nicht.
Er (auf der Leiter):   Der ist wirklich weg.
Sie:               Das kann nicht sein.
Sie suchen und suchen.
Kind (weint):              Das war aber meiner!
Sie (tröstend):          Jetzt hast du schon was für den Morgenkreis am Montag.

 

Die Stille

Eine fremde kleine Stadt. Ein alter Friedhof. Hermann kennt sich nicht aus.
Er ist gekommen, um sich zu verabschieden. Seit er über siebzig ist, passiert es hin und wieder, dass er zu spät an Ort und Stelle ist. Die Frau von der Friedhofsverwaltung führt ihn an Hecken, Kreuzen und Wasserstellen vorbei und entfernt sich diskret, als er mit seiner Sonnenblume vor dem Grab steht und nickt.
Die Stille erreicht Hermann in seinem Innersten. Nein, eigentlich ist es nicht zu spät, sondern gerade richtig. Als Student hatte er sie reiten sehen, damit fing alles an. Er saß auch ganz gut im Sattel, sogar im Galopp.
Es waren die sechziger Jahre, mein Gott, denkt er.
Wenig später war es vorbei. Einfach so.
Neulich fand er über Google die Todesanzeige. Ihren Namen hatte sie also behalten.
Da stand auch der Ort. Und dass sie zwei Töchter hatte.
Hermann will gar nicht mehr wissen.
Die Stille hat etwas Schönes.

Der Doktor

Er fährt immer Fahrrad, bei jedem Wetter. Außer bei Schnee vielleicht. Unter dem Gegenwind hindurch, so scheint es, den Regenschauern die breite Doktoren-Stirn bietend, meist in Eile, daher nur mit einem „Hallo!“ auf den Lippen, falls ein Bekannter seinen Weg kreuzt, doch oft ist er schneller schon vorbei. Neulich hält er an der großen Kreuzung an, dabei dauert es auf seiner Spur immer ewig bis wieder Grün kommt. Er bockt das Rad auf. Bückt sich. Hebt eine zerknitterte Mundschutzmaske auf. Klemmt sie unter den Gepäckträgerbügel. Weil es doch Mülltonnen gibt wie Sand am Meer.
Rot.
Egal.
So viel Zeit muss sein.

Der blinde Passagier. Eine Brottaschen-Überraschung

Fast alle Schweriner Kindergarten-Kinder der 70er Jahre hängten sich morgens eine lederne Brottasche mit Trageriemen um den Hals. Mehr als zwei Stullen passten eigentlich nicht hinein. Zugemacht und fertig. Am kippbaren Drehverschluss, der genau durch den Klappenschlitz passte, fingerte es sich unterwegs immer schön herum.
Jule hatte auch so eine Brottasche. Wenn alle Kinder am Tisch saßen, wurde ausgepackt. Arglos sah sie zu, wie einmal die Erzieherin Jules Frühstücksbrot aus dem Täschchen zog. Hoppla! Purzelte doch ein kleines Mainzelmännchen hinterher, das Jule heimlich dazugesteckt hatte. Es war sogar bunt! Nicht so grau-schwarz wie im Fernsehen! Von den Mainzer Verwandten.

Jule bekam gar nicht mit, wie erschrocken die Erzieherin darüber war: Das Westfernsehen hatte Einzug in Jules Proviantgepäck gehalten. Und Jule war eine Lehrerstochter! Wo war da die Vorbildwirkung?
Später darauf angesprochen, versprach die Mutter: „Kommt nicht wieder vor!“
Fortan gab es in Jules Brottasche keine wirklichen Überraschungen mehr.

In memoriam Charlotte C.

Charlotte war über achtzig und konnte so schön von früher erzählen.
Wir waren knapp vierzehn und hingen an ihren Lippen. Die Klappstühle kippelten ein wenig auf dem buckeligen Rasen, aber das störte nicht, vielleicht weil sowieso alles schon ein bisschen wackelig war in der späten DDR. Im Schwung des Gestikulierens mit ihren dünnen, langen Armen verlor Charlotte plötzlich den Halt und sank ganz langsam nach hinten weg. Die Beine mit den schweren orthopädischen Schnürschuhen zeigten nach oben, als sie ihren Satz beendete. Dennoch schien sie zu sitzen, wie sie zuvor gesessen hatte, und erzählte weiter, als wäre nichts geschehen.
Zack, an beiden Seiten angefasst, kippten wir Charlotte wieder in die Senkrechte.
Dann hörten wir das Ende der Geschichte.