Am Büchertisch

Käthchen Kruse-Federkiel wartet in der Schlange der Autoren darauf, ihr Belegexemplar ausgehändigt zu bekommen. Durch Zufall gelangte einer ihrer Artikel in ein wissenschaftliches Jahrbuch. Dabei ist Altertumskunde gar nicht so richtig ihr Fachgebiet. Egal. Es hat einen Festvortrag und Würdigungen gegeben, die Stimmung ist heiter.
Der Schatzmeister des Vereins findet Käthchen in der Autorenliste, zeigt mit dem Finger auf sie und hebt bedeutungsvoll die Stimme:
„Ich kenne Ihren Ex !“
„Oh, wer ist denn mein Ex?“
An solchen Irrtümern hat sie ihre Freude.
„Na, Herr Federkiel …“
„Das ist mein Mann.“
Ein Doppelname führt manchmal zu Verwechslungen, wenn ein Bestandteil früher anderswo vorgesetzt oder angehängt worden war. Sowas passiert auch in der Altertumskunde. Der Schatzmeister jedenfalls scheint bei den Federkiels seit Jahrzehnten nicht auf dem Laufenden zu sein.
„Ich glaube, Sie kennen die Ex meines Mannes“, klärt Käthchen auf, denn das ist sogar wahrscheinlich.

Käthchen Kruse-Federkiel mag am liebsten die Fettnäpfe, in die sie nicht selbst hineingetreten ist.

 

 

Glück gehabt

Als ich nach dem Silvesterspaziergang den Haustürschlüssel in der Jackentasche suchte, stellte ich fest, dass ich mein Smartphone verloren hatte. Stumm geschaltet. Niemand würde ein Klingeln hören.
Der Moment schmeckte nach Abschied und einer anrollenden Panik, die sich schnell ins Unfassbare steigern konnte. Meine Kontakte. Meine Termine. Meine Fotos. Meine Daten. So lange es noch hell war, musste ich das Handy wiederfinden!
Im Lichtkegel der Fahrradlampe tauchte es nicht auf. Am See auch nicht.
Zurück am Schreibtisch wechselte ich in einen hektischen Pragmatismus, während das Teewasser kochte, obwohl mir gerade jetzt nicht nach Tee und Keksen war.
Ihm schon.
Kauend fand er heraus, wie man online ein Klingeln auf einem verlorenen Smartphone erzeugen kann. Nach elf Sekunden musste jemand rangegangen sein. Jetzt gleich nochmal. Über das Festnetz!
„Hallo?“, sagte eine Frau.
Eine Glückswelle ließ meine Stimme ganz schrill werden.
Wir radelten unter dem Regen hindurch. Die Frau sollte eine gelbe Jacke tragen. Es war so einfach!

Ein paar Nachrichten waren eingegangen. Glück-Wünsche für das neue Jahr!

Weihnachten! 2022!

Das Jahr hat heftig ausgeteilt,
doch just beim Kerzenschein
stellt sich, gesättigt und beschenkt,
die Zeit der milden Rückschau ein.

Was hatten wir schon auszusteh’n?
Die Zimmer sind geheizt.
Am Braten und am Gabentisch
wurde nicht gegeizt.

Alle Jahre wieder …
was denn sonst, mein Kind,
die Zeitenwende gilt doch nicht,
wenn wir beim Feiern sind!?

ksh

Briefe im alten Koffer

Verblasst und verschlossen. Doch immerhin aufgehoben.
Sie hat sich schon oft vorgenommen, die Briefe-Stapel im Koffer einmal durchzusehen und die Post, die ihr nichts mehr bedeutet, auszusortieren. Das hieße also: wegwerfen. Der Papierkorb steht bereit.
Sobald sie einen der einst eilig aufgerissenen Umschläge geöffnet hat und den Bogen entfaltet, bleibt sie hängen und fühlt nach.
Was sind schon dreißig Jahre?
Aus manchen Kuverts zieht sie Fotos, die sie woanders hätte aufheben sollen, damit sie ihr häufiger in die Hände geraten wären. Die Bilder mit Petra und dem Professor in Rom zum Beispiel.
Längst ist er tot. Inzwischen hat sie bald sein Alter von damals erreicht. Unglaublich. Sie drapiert die Fotos und knipst die Auswahl mit dem Handy.
Briefe schreibt sie sich kaum noch mit Petra. Per signal geht es schneller.
„Wie jung wir doch waren. Neulich noch!“, kommt Minuten später zurück.
Oh ja. Und schon gibt es wieder eine kleine Korrespondenz – auf eine Weise, die in keinem Koffer Platz findet.

Lesetipp zu Ostern. Eine Vorankündigung am Nikolaustag

Sex and Crime – jawoll! – aber auch jede Menge Verrücktheiten, Grenzgängerwagnisse und schlichtweg Künstlerpech stehen vor der Tür. Im März erscheinen zwanzig Kurzgeschichten, u.a. auch die preisgekrönten, unter dem Titel HERZKASPERTHEATER.
Die Geschichten haben sich kürzlich noch in der Sortierphase befunden. Auf dem Fußboden ließen sie sich willig gruppieren, verschieben und schließlich festsetzen.
Inzwischen ist der Weg wieder frei.
Dennoch – drei Mal auf Holz geklopft für das HERZKASPERTHEATER.

 

Fünfzig Zimmer

Das Hotel, ein Labyrinth aus Gängen, Treppchen und Seitenflügeln, hat fünfzig Zimmer. Nur eines ist vermietet. Melanie hatte schon am Nachmittag für eine Übernachtung eingecheckt. In der Dämmerung kam sie nun aus der Stadt zurück und öffnete mit dem dickeren der beiden Schlüssel die Eingangstür. Die Rezeption lag im Dunkeln. Der erste Lichtschalter, den Melanie fand, reagierte nicht. Auch der an der Treppe ließ sie im Stich, vermutlich gehörte er zum selben Schaltkreis.
War der Chef in seinem Büro? Sie klinkte die Tür zu einer dunklen Raucherhöhle auf und zog sie schnell wieder zu.
Vorsichtig tappte sie die Stufen hinauf und gelangte auf einen Flur, an dessen offenen Zimmertüren sie die Nummern nicht erkennen konnte. Alle Betten waren unbezogen. Treppab kam sie an einem Ficus vorbei, der ihr am Nachmittag schon aufgefallen war. Im nächsten Gang ließ sich das Licht anschalten, welch ein Wunder. Sie fand das Zimmer 42 und versuchte, sich wie ein ganz normaler Hotelgast zu fühlen.
„Es gibt kaum noch Geschäftsreisende“, klagte der Chef am nächsten Morgen. Alles werde jetzt teurer. Sein Vater hätte das Hotel in den 50er Jahren gebaut und immer wieder erweitert. Die goldenen Zeiten seien vorbei, seit Corona erst recht. Aber verkaufen werde er nicht!
„Das Hotel ist mein Leben“, flüsterte er in die Stille.
„Und wenn niemand mehr kommt?“, fragte Melanie.
„Auch dann!“

 

Unterwegs ohne Rosi

Hans muss zu Rosi ins Krankenhaus und ihr den Rollator bringen. Ohne kommt sie dort doch gar nicht zurecht! Er bugsiert das Gefährt in die Straßenbahn und freut sich, als ihm eine junge Frau gleich ihren Platz anbietet. Nein, er wird hier niemandem sagen, dass er noch ganz gut zu Fuß ist. Es ist schön, sitzen zu können.
Aber zum Fahrscheinautomaten muss er trotzdem!
Herrjeee …  er will kein widersprüchliches Bild vermitteln. Vielleicht versucht er, wenigstens ein bisschen zu wackeln auf dem Weg? So zum Beispiel …?
Und auf dem Rückweg auch.
Vorsicht! Gleich kommt die lange Kurve.
Helfende Hände stützen ihn.
Da ist sein Platz. Rrrrrrummms. Angekommen.
Gerade so.

Die Diebstahlsicherung

Lydia hat ihr Mountainbike – ohne es anzuschließen – abgestellt und nur schnell eine Flasche Wein gekauft. Immerhin ist sie jetzt sechzehn.
Auf dem Rückweg sieht sie schon von weitem: Da stimmt was nicht. Hat doch jemand seinen Hund an ihrem Fahrrad angebunden! Kein Schoßhündchen, sondern ein zotteliges Riesentier, das aus der Dachrinne schlürfen könnte, sollte es sich auf die Hinterbeine stellen.
In Lydias Kindheit waren alle großen Hunde scharf. Als kleines Mädchen war sie also immer schnell wieder weg gewesen, wenn so einer gerade nicht an der Kette lag.
Sie ist wütend. Es kann aber nicht lange dauern. So ein Tier hat ja auch keine Zeit.
Also abwarten.
Ein Eis essen.
Auf die Uhr gucken.
Wieder zum Hund schauen.
Plötzlich bindet ihn ein Typ mit einem Fleshtunnel im Ohrläppchen los.
Nun traut sich Lydia.
„Das ist mein Rad.“
„Dann pass nächstes Mal einfach selbst drauf auf.“ Er grinst.

Cool, findet Lydia. Wenn der nur nicht so einen großen Köter hätte …

 

 

Abgehauen

Am Marienplatz kreuzen sich die Wege. Getriebene, Müßiggänger und Radfahrer müssen aneinander vorbei und dabei immer noch die sich nähernde Straßenbahn oder den Bus im Blick haben.
Ein langer Lulatsch schwankt wie ein Betrunkener rück- und vorwärts. Da kommt sein Bus.
Er stolpert zur Einstiegstür und verfehlt die Stufe.
Als er die Arme reckt, um Halt zu finden, wird ein grünes Plastebändchen an seinem Handgelenk sichtbar.
„Wollen Sie nicht lieber zurück in die Klinik?“, fragt eine Frau.
„Ich?“ Er kriegt einen Griff an der Tür zu fassen. „Bin doch da … “ , er zieht sich hoch, „grad erst …“, er schleudert sich herum auf einen Sitz, „… abgehauen!“ Erfolgreich. Bis hier jedenfalls.

Nachrichten aus Barth

Im Barther Flüchtlingsheim gab es einen Mord.
Die Zeitungsfotos von der Straße mit den DDR-Plattenbauten sind genau dort entstanden, wo ich vor zwei Jahren mit einer jungen Familie unterwegs war, um über sie zu schreiben.
Ich wollte alles verstehen: ihre Flucht, ihre Träume, ihre Möglichkeiten.
Was ich sofort spürte, war ihre Angst.
Ich weiß nicht, ob die drei aus der Nähe erlebten, was in ihrer Nachbarschaft geschah. Spätestens, als Polizeifahrzeuge die Straße in ein anderes Licht tauchten, wird die Nachricht bei der Familie angekommen sein: Ein Marokkaner hat seine Frau erstochen.
Ich sehe das versteinerte Gesicht der jungen Mutter, die ich kennengelernt hatte. Sie wird ihrem Kind die Haare kämmen und hoffen, dass es von all dem nichts mitbekommen hat.