In der Straßenbahn

Auf der freien Sitzbank gegenüber lag das Passbild eines lächelnden Mädchens: lange Haare, fein geschminkt – ein Teenager. Dass das Foto aus einem Schülerausweis stammte, verrieten die gelben Papierfetzen auf der Rückseite. Warum drehte ich es um? Es ging mich doch gar nichts an! Aber ließ man denn solch ein Bildchen einfach liegen?
Sicher.
Zurück auf den Sitz damit.
Momente später nahm eine füllige Dame in einem langhaarigen Teddypelzmantel auf jener Bank Platz.
An der übernächsten Haltestelle erhob sie sich, drehte sich zur Tür und stieg behäbig aus dem Wagen. Ich konnte zwischen ihren Teddyhaaren kein Passbild ausmachen. Es war aber auch nichts zu Boden gefallen.
Das Mädchen war verschwunden.

Der Lebensretter

Der Junge war ungefähr 12, damals, in den 1950er Jahren, als er zum Stromern in den Wald ging. Der Hund seines Onkels lief mit. Es war einer von den scharfen, die der Junge eigentlich nicht mochte. Aber so waren sie zu zweit.
Sie kamen zu den überwucherten Bunkern, diesen eilig gegrabenen und notdürftig befestigten Stellungen aus Zeiten, die der Junge noch im Ohr hatte. Ein Panzerwrack hatte den Kindern dort auch manchmal als Versteck gedient; inzwischen war die Tarnschicht aus Grasbüscheln und Zweigen zu einem Biotop geworden. Der Hohlraum darunter war seit Jahren feucht und stank.
Als der Junge nun feststellte, dass er schon mitten auf diesem Wrack stand, war es bereits zu spät. Sein rechtes Bein schrammte an unsichtbaren scharfen Kanten ins Bodenlose.  Kurze Zeit hing der Junge fest, und die Kiefern schienen um ihn herum zu kreisen. Dann krachte er mit voller Wucht ins Dunkle hinunter.
Wie lange er dort zitterte, weiß er nicht. Doch entschloss er sich irgendwann, einen Versuch zu wagen hinauszukommen. Die Wunde an seinem Bein  brannte wie die Hölle. Es gab aber Wege, die gekrochen werden konnten. Zur Not. Auch aus diesem Wrack hinaus. Als er schließlich auf dem Waldboden lag, war der Hund nicht mehr da.
Der zähnefletschende Gefährte hatte ihn verlassen!
Entsetzt schleppte sich der Junge ein paar Meter und lehnte sich an einen Baum. Es gab genügend Stämme zum Ausruhen. Seine Fleischwunde band er mit einem Taschentuch ab, der Schuh war schon voller Blut. Er durfte nicht hinschauen, sonst kippte er um. Einfach weiter. Immer weiter.
Irgendwann hörte er ein Bellen, sah das Tier an der straffen Leine und dann den Onkel, der kaum Schritt halten konnte und endlich kapierte, warum der Hund ihn in den Wald geholt hatte.

Nachkriegszeiten …

Atemlos: Die Schlager-Gänse

Susanne hatte 30 Gänse. Die hat sie im Oktober schlachten lassen. Extern.
Straff eingetütet kam das Geflügel mit gekreuzten Keulen wieder zurück auf den Hof. Ein Körperchen sah wie das andere aus, Susanne mag aber das Individuelle. Also klebte sie jeder Gans ein Namensschild auf die Brust. Helene F., Katja E., Marianne R. und so weiter.
Den rechten Schenkel versah sie zudem mit einer Liedzeile!
An einem Sonnabend kamen nun die Kunden, alle handverlesen und ganz sicher miteinander bekannt.
Eine Dame erkundigte sich nach den Schlagersängern.
„Das funktioniert“, lachte Susanne übermütig. „Du musst nur auf die Keule drücken!“
Na gut, warum den Spaß nicht mitmachen? Die Dame hatte sich gerade für Marianne R. entschieden.
Zeigefinger drauf und Start.
Susanne wippte mit den Knien, deutete auf das ausgewählte Päckchen und fand gleich den Ton:
Er gehört zu mir
wie mein Name an der Tür,
Und weil Susanne eine richtige Stimmungskanone ist, fiel die Warteschlange in den Gesang mit ein.
Bei Na-na-na-na-na-na-na waren alle dabei.
Eine Strophe genügte.
Marianne R. war verkauft.
Und Katja E. näherte sich ihrem Auftritt.

Frohe Weihnachten und guten Appetit!

Nach der Lesung

„Nichts hat sich genau so zugetragen“, merke ich zum Schluss an, „in F. ist nie Fundmunition explodiert.“ Das meine ich zu wissen, denn keinen Ort kenne ich so gut wie F.. Und da Georg im Publikum sitzt, der schon sein ganzes Leben dort wohnt, fühle ich mich verpflichtet, dies klarzustellen.
Später, am Büchertisch, beugt sich Georg zu mir herunter.
„In F. hat es doch einen Granaten-Unfall gegeben! Der Hausmeister von der Schule hat so ein Ding gefunden und dran rumgeschraubt. Dabei hat er eine Hand verloren.“
Davon hatte nie jemand erzählt.
„Ja, ’59 oder ’60 ist das passiert.“
Ich sehe die Schule vor mir, den See, das Schilf und einen Mann, dessen Spuren in F. verwischt sind.
Wieder eine Geschichte hinter einer Geschichte* …

*Erhöhte Temperatur in HERZKASPERTHEATER

Fitness am 6. Dezember

Ein gestandener Mann am Boden?
Keine Sorge.
Er macht seine morgendlichen Liegestütze. Die sind gut für die Schultermuskulatur, den unteren Rücken und die Trizepse; das hat er bei Google gelesen. Und auch: Dass der Oberkörper insgesamt definierter aussehen wird.
Ho-ho-ho …

Totensonntag

„Wie geht es Ihnen?“, fragt sie den 94jährigen.
„Altersentsprechend“, erwidert er.
„Möge es so bleiben“, entgegnet sie und glaubt, dass das gut sei.
„Nichts bleibt so. Ich habe neulich einen Freund beerdigt. Nun ist alles anders.“
Sicher ist auch das altersentsprechend, denkt sie und fürchtet sich ein bisschen.

HEINZELMÄNNCHENS WACHPARADE. Zum 30. der Schelfoniker

Jedes Orchester braucht HEINZELMÄNNCHEN als Proben- und Konzerthelferlein. Sie spitzen beflissen Bleistifte, bestreichen Bögen mit Kolophonium, putzen Blech und platzieren manchmal gar Konfektstückchen auf den Pulten. Außerdem schubsen sie den Lampenfieber-Regler und reagieren nur verstimmt, wenn sie sich auf den Schlips getreten fühlen. Regelmäßig vor den Jubiläumskonzert-Proben stehen die Heinzelmännchen als ganze Kompanie vor der Saaltür der Schelfoniker, bitten um Einlass und heben für ihre WACHPARADE den eigenen Taktstock. Dann geht es nämlich gegen den Strich: Humm-da, humm-da, humm-da, humm-da … und – plauz aufs zweite Sechzehntel! – setzen die Geigen ein. Synchron natürlich! Da stauben die Bögen, und es gibt kein Halten mehr. Zwischen den Pulten wuseln die Kerlchen hin und her und dann bringen sie auch noch fünf Halunken zum Einsatz: B, Es, As, Des und Ges. Da gibt’s ordentlich was zu fingern und zu feiern. Erst recht im finalen Fortissimo. Wenn wir eine Pauke hätten, käme es zum Heinzelmännchen-Feuerwerk.

À propos: Spielt jemand Pauke? Für die Heinzelmännchen? Oder für alles, was sonst so auf’s Pult kommt? Wir proben immer montags. Das wird sich in den nächsten 30 Jahren auch nicht ändern.

 

Das unwirkliche Blau

Dieses Mal gehe ich nur wegen der Uecker-Fenster in den Dom.
Wie ein Wasserfall kommt das Blau auf mich zu, zerrissen, schräg und beinahe tosend. Hellblau und Weiß schimmern dazwischen, auch beim zweiten Fenster, das wie aus dem Rahmen gefallen scheint. Ein gotisches Fenster im gotischen Fenster, nur nach links runtergerutscht und so blau, wie man es sich nur vorstellen kann. Und hellblau. Und weiß eher hintergründig, doch wer kann sich da schon sicher sein.
„Das wird ja türkis“, sagt eine Frau neben mir und fingert auf dem Smartphone-Foto.
Bei mir wird alles Hellblaue auch türkis. Ich probiere es immer wieder mit dem Handy, verändere die Einstellungen und vermisse meine Kamera.  Ist das nun ein Trick Günther Ueckers oder ein farbspektrales Phänomen, das mein schlauer, alter Physiklehrer erklären könnte?

Ich höre ihn schon stöhnen: „Ach, Mädel …“

 

Ein Abschied

Wie von Geisterhand geschubst flog die Uhr aus meinem Umkleidespind, als ich in das Dunkel des Wäschefachs gegriffen hatte. Sie landete seitlich auf dem gefliesten Fußboden, und ich dachte zunächst nur: Sieh an, meine Uhr! Im Augenblick des Aufhebens zweifelte ich jedoch an meiner Wahrnehmung. Hatte mir die Sauna zu sehr zugesetzt? Fast alle Zahlen waren von ihren Plätzen auf dem Ziffernblatt gesprungen und tanzten zwischen den Zeigern herum. Ich schüttelte die Uhr vorsichtig – wie früher das Geduldsspiel mit den kleinen Kugeln, die in ihre Löcher kullern sollten. Da rutschten die 9 und die 11, die 3 und fast alle anderen Zahlen unter das Ziffernblatt, verabschiedeten sich gar auf ihrer Kehrseite und suchten sich einen Platz im Uhrwerk.
Schließlich blieb die Zeit stehen …

Tiefbau

Ein Schlund. Nach einem halben Meter knickt die Höhle zur Seite weg, so dass nicht erkennbar ist, wie sich das System von Gängen entfaltet und ob die Dachsfamilie gerade zu Hause ist.
Menschenkinder könnten hineinrutschen, doch kommen die Kleinen nicht auf diesen Hügel. Das schickt sich nicht.
Es ist ein Grab.
Martha und Hugo Berwald – jaja, der Bildhauer – wurden 1937 hier bestattet.
Nun jedoch scheint dieser Ort belebt zu sein.