Abschied von Gülsary

ALLE MÄRCHEN SPIELTEN HIER. Schon immer. Hier – das war Frankenhorst. Auch Romane, Novellen und Erzählungen wurden für mich hier sozusagen … verfilmt! Jede Lektüre, sobald sie Bilder erzeugte, führte mich daher an den Ort meiner Kindheit.
Als ich neulich von dort in der Dunkelheit den schmalen Weg nach Carlshöhe nahm und hinter der scharfen Linkskurve stramm in die Pedale trat, weil es nun bekanntlich bergauf ging, stieß der Lichtkegel meiner Lampe auf ein abgestelltes Fahrrad, dessen Rück-Reflektor rötlich aufblitzte. Eine Welle tiefen Mitleids erfasste mich, einen Moment nur, bis ich wusste, warum. Ich musste an die Pferdekutsche denken, von der ich einst bei Aitmatow gelesen hatte. Sie war nachts in einem Graben in den kirgisischen Bergen zurückgelassen worden, weil der sterbende Hengst Gülsary sie nicht mehr hatte ziehen können.
Dass der verwunschene Weg nach Carlshöhe für mich auch als kirgisischer Horror-Pfad getaugt hatte, war mir längst entfallen. Doch das Rücklicht erinnerte mich daran.
Den Abschied von Gülsary hatte es genau hier gegeben.

Patchwork in der Fußgängerzone

Fiete ist sechs, und er wird heute mal richtig mit seinem Vater reden, denn es ist Papa-Woche. Er will auch mal so cool werden wie Papa. Aber zuerst gibt es ein Eis.
Da hinten kommt Opa, na sowas, dann will der bestimmt auch eins. Opa hat seine Freundin dabei, na klar.
Zwei Kugeln darf Fiete, mehr schafft er sowieso nicht. Schoko wie immer und …
„So ein Zufall“, hört er den Opa brummen. Fiete sieht sich um. Da steht plötzlich Omi.
„Tach, Mama“, flüstert Papa.
Omi und Opa haben sich getrennt, als Papa noch in die Schule ging!
„Hallo Omi!“  Das war Fiete. Mehr sagt er nicht. Er wollte doch nur mit Papa reden heute. Und Omi gehört ganz woanders hin. Nicht mal zu Opa. Und wo dessen Freundin hingehört, weiß Fiete eigentlich gar nicht.
„Schoko und Himbeere“, ruft er schnell über den Glastresen.
Das hallt noch nach, als er das Eis längst gekostet hat.
Denn sonst sagt keiner etwas.

 

Sonntagmittag

Sonntagmittag am Bodden. Kite-Surfer ziehen schnittig ihre Runden, einer springt in eine Traumhöhe und scheint dort zu verharren. Ich halte die Luft an, bis er sanft zur Welle zurückkehrt.
Rücklings, auf der Koppel, hat sich das Quad eines Bauern festgefahren. Er wollte nur den Elektrozaun abfahren, wie immer. Bis zum oberen Rand der Radkappen ist das Gefährt nun im Modder versunken.
Sein Kumpel weiß schon Bescheid. Der Bauer sieht ihn kommen. Und dann mit dem großen Traktor gleich!
Ich sehe keinen Traktor. Nur Kühe und die Kitesegel. An solche Weiten ist mein Auge nicht gewöhnt.
Einen Augenblick später dreht der Kumpel mit seiner schweren Technik von hinten auf die Koppel.
Der Bauer lässt sich das Abschleppseil reichen und klinkt es an seinem Pechvogel fest. Einmal Gas gegeben und das Quad rutscht hervor, verschlammt wie Kindergummistiefel im Kuhstall.
„Un dat up’n Sünndach“, lacht der Bauer. Der Kumpel hebt die Hand an seinen Mützenschirm und bullert davon.
Das Quad knattert hinterher.
Die Kites tanzen geräuschlos weiter.

ABSCHIED VON LETTLAND. The wheel

Am letzten Abend sitzen eine Russin, eine Mazedonierin, ein Pole, ein Litauer und eine Deutsche zusammen. Hochprozentiger Riga Balsam, gut gegen Erkältung, und Bier werden eingeschenkt. Ingwer-Tee gilt nur in der ersten Runde. Verstanden! Beim letzten Witz („Treffen sich ein Russe, ein Pole und ein Deutscher …“) kommt die Bettschwere. Die Bustickets nach Riga liegen bereit.
Am frühen Morgen schon rattern die Rollkoffer über den Rathausplatz in Ventspils, drei Stunden später plagen sie sich über das Rigaer Kopfsteinpflaster. Der Pole ist gentleman und hat sich des riesigen Gepäck-Untiers der Deutschen angenommen, sie nimmt dafür sein kleines Halb-Köfferchen und versucht, die schonenden Absenkungen an den Bürgersteigen zu treffen. Plötzlich – immediately – fehlt ein Rad am Klein-Gepäck. Ihre Pein ist größer als seine Verwunderung. The wheel … das Rad, das irgendwo weiterrollt.
Zum Abschied lässt sich dann doch noch ein Witz daraus machen.

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Die Zeit

Ich hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass ich die Zeit anhalten wollte. Daraus sollte nun Ernst werden. Wer hätte das gedacht?
Der Sekundenzeiger meiner Armbanduhr gab mir das erste Zeichen: Er stockte, vibrierte, wartete viel zu lange und sprang dann doch in erstaunlich großen Schritten weiter, um bald wieder zu verharren. (Die Zeit des Übergangs?)
Ich ging zu einem Spezialisten, um die Prozedur fachmännisch begleiten zu lassen. Er reinigte mit großer Sorgfalt winzige Löchlein, Kontakte und Rillen, wechselte die Batterie und gab den Zeigern die Richtung.
Dem muss ich mich nun fügen. Die Zeit rennt. Vorwärts.

NOTIZEN AUS VENTSPILS. „Karl-Marx-Stadt“

https://www.youtube.com/watch?v=5BO8MgJk3fk

Ob ich dieses Lied kenne, fragt der Gast aus Riga, ein Russe, der für ein paar Tage im Autorenhaus zu Besuch ist.  Da das russische Original – „Ландыши“ – in den 60er Jahren ein echter Gassenhauer war, wird doch auch die deutsche Fassung populär gewesen sein, oder? Er summt die Melodie und geht rhythmisch mit den Beinen mit bis ich einen Ohrwurm habe.
„Karl-Marx-Stadt“.  Klingt ein bisschen wie „Göttingen“ der Französin Barbara. Nur eben sehr russisch.
Also: Nie gehört.
Wie sich herausstellt, ist das Lied erst 1990 übersetzt worden, als die Stadt umbenannt wurde. Ob diese Fassung die Chemnitzer jemals wirklich erreicht hat, bleibt uns verborgen …

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Slavēsim Dievu!

Die evangelische Nikolaikirche vor meinem Fenster ist immer verschlossen und mit einem Bauzaun gesichert. Niemand kann einfach so hinein.
Vorgestern aber traf ich einen Herrn mit einem  märchenhaft großen Schlüssel in der Hand. Es gebe keine Ausnahme. Ich könnte am Sonntag zum Gottesdienst kommen, dann sei die Kirche geöffnet.

Kalt ist es. Die dicke Strumpfhose unter den Jeans war eine richtige Entscheidung. Zwei kleine Mädchen laufen in ihren Tüllkleidchen an meiner Bank vorbei. Man zieht sich doch hübsch an heute! Genauso denken die Alten auch, eine der Frauen meine ich vom Bauernmarkt zu kennen. Sie nickt schmunzelnd zurück.
Ich verstehe kein Wort. Doch die Lieder gehen mir zu Herzen. Auf der Empore über mir singt eine glockenklare Sopranstimme, die so deutlich herauszuhören ist, dass ich mir ein Gesicht dazu vorstelle.
Da! Manches wird nun mal (fast) überall gesungen: Lobe den Herren …! Slavēsim Dievu!
Die Frauen in meiner Nähe versinken in innigem Gebet.
Ich folge meinen Gedanken und bin froh.

 

 

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Кто ищет его кошелек?

Blaubeeren! Alle zwei Tage kaufe ich mir eine große Schale. Aber auf dem Bauernmarkt gibt es nun keine mehr.
Doch!
Ach so, das sind Aronia-Beeren? Noch besser! Die sind doch so gesund. Bitte eine ganze Schale voll.
Mit dem Fuß stoße ich an etwas Hartes. Ein Portmonee. Wer hatte vor mir in der Schlange gestanden? Die Bäuerin nimmt es mir ab, findet in den Fächern einen Zettel mit Telefonnummern und nickt. Kein Problem. Man kennt sich ja sowieso.

Auf dem Heimweg probiere ich eine Aronia-Beere.
(Interessant, aber … ein Achtel der Menge hätte auch genügt).

NOTIZEN AUS VENTSPILS. Mitten im Wald

Mitten im Wald – eine Ruine.
Ein Bunker? Ein Geheimversteck? Eine Falle? Oder einfach nur ein Drehort?
Auf jeden Fall: eine militärische Hinterlassenschaft.
Vielleicht spukt es hier manchmal. Das Kino im Kopf ist stärker als die Spuren selbst.